Aus dem Rahmen gefallen

Sabine Kraus

Eine Buchbesprechung

Praktische Autismuskunde von einem, der es wissen muss.

Worum es geht

Der Untertitel des Buchs von Peter Schmidt, “Aus dem Rahmen gefallen“, trifft es genau: Praktische Autismuskunde. Peter Schmidt kann in seiner Autismuskunde auf seine intensive Beschäftigung mit dem Thema zurückgreifen, er hat bereits mehrere Bücher dazu veröffentlicht. Dass Prof. Dr. Dr. Vogeley, Experte für Autismus im Erwachsenenalter am Universitätsklinikum Köln, ein Vorwort beiträgt, spricht dafür, dass der Band fundierte fachliche Informationen bietet. Den Nachsatz von einem, der es wissen muss, darf Schmidt sich erlauben, denn seine Erfahrungen als Asperger-Autist sprechen für sich.
Die Kapitel gliedern sich klassisch nach dem biografischen Ablauf von früher Kindheit über Schule hin zu Beruf und Partnerschaft, ergänzt durch Ausführungen zu den Diagnosekriterien und Differenzialdiagnostik sowie Therapiemethoden. Der Verfasser greift dabei auf lebendige Beispiele aus seinem Alltag zurück, aus denen sich für Nichtbetroffene allgemeine Hinweise für ein autismusfreundliches Miteinander ableiten lassen.

„Daumen hoch“

Obwohl Schmidt viel Theorie in sein Buch einarbeitet, liest es sich an keiner Stelle trocken, langweilig oder abgehoben. Vielmehr gelingt es ihm, fachliches anhand der anschaulichen Beispiele aus seiner Biografie mit Leben zu füllen, manche Passagen gestalten sich dabei äußerst humorvoll. Er verwendet eindrucksvolle Bilder, um die Welt aus den Augen eines Autisten für NTs begreifbar zu machen. So beschreibt er sein lebenslanges Gefühl der Distanz zu anderen Menschen als unsichtbare, gläserne Mauer, seine Kommunikationsschwierigkeiten als soziale Farbenblindheit. Sehr gut grenzt er Egoismus (Vorteilnahme zum Schaden anderer) von der autistischen Selbstbezogenheit (gefangen im eigenen Fühlen und Erleben) ab. Ebenso widerlegt er das Vorurteil, Autisten hätten keine Gefühle. Er beschreibt, dass alle Emotionen vorhanden sind, der Unterschied ergäbe sich allein aus der mangelnden Perspektivübernahme und der unterschiedlichen Bewertung von Situationen. Es falle Autisten einerseits schwer, die Gefühle und Intentionen ihres Gegenübers zu erfassen, umgekehrt fehle es unter NTs an Empathie für die autistische Wahrnehmungs- und Erlebniswelt.

„Daumen runter“

Schmidt betont bei der Diagnostik die Trias der Kriterien (1) Kommunikation ohne Beziehungsebene, (2) Sozialverhalten ohne Empathie, (3) Rigidität und Stereotypie“. Zu Recht deutet er an, dass die Diagnosestellung bei Erwachsenen besondere Sorgfalt und Erfahrung erfordert, um erworbene, autismus-ähnliche Symptome von einem manifesten Autismus zu unterscheiden. Nicht auf jedes seelische Leiden passt das Etikett Autismus! Es geht mir jedoch zu weit, einen Autismus von vornherein auszuschließen bei allen, die die oben genannten drei Merkmale nicht in vollem Umfang in jeder Situation zeigen. Ich sehe hier die Gefahr, dass er seine eigene Erfahrung und bestimmte Lehrmeinungen absolut setzt, die letztendlich ein männliches Erscheinungsbild des Autismusspektrums als das einzig Mögliche festschreiben.
Nach meiner Einschätzung ist es dagegen so, dass ein gewisses Maß an Kommunikation und Interaktion auf der Beziehungsebene zu erlernen ist für Betroffene, die entsprechende kognitive Voraussetzungen dafür haben. Solange es nicht zur Selbstverleugnung oder Überlastung führt, halte ich es für sinnvoll, an diesen Fähigkeiten zu arbeiten, um eine Brücke zu anderen Menschen schlagen zu können. Schließlich sehnen sich die meisten Betroffenen nach einem erfüllenden sozialen Miteinander.

Wen es anspricht

Gerade die tief gehende Auseinandersetzung mit den Diagnosekriterien macht den Band geeignet für Fachleute und Betroffene mit Vorkenntnissen bzw. für alle Menschen mit einem besonderen Interesse am Thema. Für eine größere Allgemeinheit kann die Fülle und Tiefe an Informationen mitunter eine Herausforderung sein. Die unkomplizierte Gliederung der Kapitel erleichtert es jedoch, gezielt etwas zu einer bestimmten Fragestellung zu finden. Für Arbeitgeber, Kolleginnen, Freunde o.ä, die sich kurz einlesen und konkrete Tipps zum Umgang finden möchten, würde ich ein anderes Buch empfehlen, zum Beispiel Christine Preißmanns “Mit Autismus leben“.

Fazit

Die biografisch gefärbten Bücher von Peter Schmidt gehören zu den Bestsellern in Bereich Autismus, auch weil sie unterhaltsam und spannend geschrieben sind – so auch „Aus dem Rahmen gefallen“. Erwachsenen mit Autismus bzw. Autismusverdacht kann er eine Ermutigung geben, denn er steht zu seinen Besonderheiten, streicht seine Potenziale heraus. Er lässt sich nicht unterkriegen auch von den Hürden und schwierigen Situationen, sondern begegnet ihnen mit Humor und Selbstbewusstsein. Für Betroffene, die aufgrund ihrer Geschichte und weniger günstigen Rahmenbedingungen noch um ihren Platz im Leben kämpfen, kann dies aber Selbstzweifel auslösen, wenn sie sich im Vergleich als weniger durchsetzungsstark und erfolgreich wahrnehmen.

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Sabine Kraus

geboren 1977 hat im Alter von 36 Jahren eine Diagnose aus dem autistischen Spektrum erhalten. Sie hat Anglistik und Germanistik (Literaturwissenschaften) studiert und war als Lehrkraft für Englisch in der Erwachsenenbildung tätig. Heute ist sie in einem Autismus-Therapiezentrum beschäftigt, wo sie neben der Verwaltung Aufgaben in der Selbsthilfe, Öffentlichkeitsarbeit und Beratung wahrnimmt. In ihren Beiträgen möchte sie aus ihrer weiblichen Sicht verdeutlichen, dass sich bei vielen Frauen Autismus nicht wie aus dem Lehrbuch zeigt. Im Blog schreibt sie unter einem Pseudonym, weil die zum Teil persönlichen Inhalte unbeschränkt online eingesehen und geteilt werden können. Damit möchte sie ihre Privatsphäre schützen.

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