„Bitte helfen Sie mir“, dachte ich

Regine Winkelmann

und ich dachte so laut, wie ich nur konnte.

“Mädchen, sprich oder spucke Buchstaben“, forderte mich mein Lehrer auf, als ich völlig aufgelöst vor ihm stand und versuchte bei ihm Hilfe zu bekommen. Nichts lieber als das!
Aber ich hatte schon Mühe zu stehen und kämpfte nicht nur um mein Sprachvermögen, sondern vielmehr um mein Standvermögen. Kein Wort brachte ich zwischen dem Versuch, mein Weinen zu verhindern hervor. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, nicht sprechen oder nicht atmen zu können? Wenn man das Heulen unterdrücken will, gelingt auch das Sprechen nicht. Und bei all den Bemühungen um die richtige Koordination der Stimmbandmuskeln, des aufkommenden Schluck – und Würgereflexes, sowie des Atmens, ist der Transport einer sachlichen Information für mich dann unmöglich.
Ich solle mir Hilfe holen und es den Lehrern sagen, war der Rat meiner Familie. Ich solle mich wehren. Das sagten sie bereits seit Tagen. Nun stand ich da, vor einer Person, von der ich möglicherweise auch Hilfe bekommen hätte, wäre ich in der Lage, mich ihr und meine Erlebnisse mitzuteilen. Ich hatte wieder viel zu lange gewartet. Nun waren da so viele Bilder und schmerzhafte Erlebnisse, dass ich gar nicht wusste, was davon als wichtige Information überhaupt Worte benötigt. Wie viele und welche Worte brauchte es, damit er dafür sorgte, dass sie aufhörten, mich zu treten und zu kneifen.
„Er muss es doch sehen“, dachte ich. „Er kann doch sicher annähernd spüren, was mit mir passiert, wenn ich nur einfach nah genug bei ihm stehe.“
„Helfen Sie mir!“ Jedes der drei Worte schob ich mit Nachdruck aus mir heraus.
Ojeh, das klang aber fordernd und war deutlich jenseits einer höflich formulierten Bitte. Dieser Lehrer war nun nicht gerade die erste Wahl, bei meinem Versuch, mir endlich nach tagelangem Tritten, verbalen Beleidigungen und Kneifen zweier Mitschülerinnen, Hilfe zu holen. Es konnte aber nicht mehr aufgeschoben werden. Es war schier unmöglich auf morgen zu hoffen, dass meine Klassenlehrerin die nötige Zeit für meine Not finden würde. Sie hatten mir so weh getan und jeder nächste Tritt an dieselbe Stelle, würde mich dazu bringen, dass ich wild um mich biss und zuschlug.
Nur dieser Lehrer war da und er war keine Person, bei der ich so recht Vertrauen hatte.
Er war dagegen auch nicht der geduldigste Mensch und hatte sich des Öfteren über meine viel zu direkte Art, über meine ständigen Launen und meinen notorisch missmutigen Gesichtsausdruck beschwert.

„Auffällig ist  die Mimik und Gestik. Sie wirkt oft unangemessen oder vermindert und unterstützt nicht die gemachte Aussage.“

Nun war der verheulte Gesichtsausdruck sicher nicht besser, aber er machte doch zumindest deutlich, dass ich die Hilfe wirklich brauchte.
Ich war sicher, er wusste, was die mit mir machen. Es konnte gar nicht sein, dass er mich so anstarrte und durchdringend betrachtete, ohne mein aufgewühltes Innenleben zu sehen. Wozu sollte er sonst so lange auf mich runterblicken? Leider misslang mir die durchaus gewollte höfliche Betonung, mit der man eine Bitte unterstützen muss. Ohne diese höfliche Betonung, auch wenn sie wider der empfundenen Not und Dringlichkeit verwendet wird, hat man kaum Aussicht auf Erfolg. So hatte ich mir mal wieder selber eine Chance vermasselt. Durch meine Art zu sein; durch meine andere Art.
„Der Ton macht die Musik, das habe ich Dir schon mal gesagt!
Wenn Du also was von mir willst, dann nicht in dem falschen Ton – ist das klar!“
Ein nicht angemessener Gesichtsausdruck,  zu wenig Blickkontakt, zu viele Worte oder zu wenige. Die falsche Betonung und die unpassende Gestik, ein Lächeln zum falschen Zeitpunkt:
Das alles macht es unsagbar schwer für Autisten,  sich mit ihren Mitmenschen ohne Missverständnisse zu unterhalten und zu kommunizieren.  Es war nie meine Absicht oder der bewusste Einsatz unhöflicher oder ablehnender Verhaltensreaktionen,  dass  ich meine Lehrer oder meine Mitschüler,  mit meiner „unzulänglichen anderen Art zu sein“,  so herausfordernd konfrontierte.  Es war nie mein freier Wille.  Es war einfach autismustypisch und hätte keinerlei negative Bedeutung gehabt, wäre es bekannt und akzeptiert gewesen.

aus. „Früher war ich falsch, heute bin anders“

 

Regine Winkelmann

Nach abgeschlossenem Designstudium 1990 brachte sie vier Kinder zur Welt und widmete sich in dieser Zeit ihren Spezialinteressen, der Kunst, Musik und Medizin. Seit der ersten Buchveröffentlichung 2015 widmet sie sich verstärkt der Öffentlichkeitsarbeit. Als Referentin und Autorin hält sie Vorträge und Lesungen über Autismus und artverwandte Neurodivergenz aus ihrer eigenen Perspektive als Autistin mit ADHS. Neben verschiedenen Publikationen verfasst sie Videomaterial und organisiert regelmäßig Kongresse, mit dem Ziel, Betroffenen dort eine Stimme zu geben.

Eine Antwort

  1. Liebe Regine,
    Auffällig ist..
    Gar nichts? Alles?
    Das Problem ist ja bereits da so schwierig, daß es selbst anerkannte Fachleute gelegentlich so leicht übersehen, wenn man den rechten Anreitz nciht setzt.
    Mir hat im Leben niemand auffälliges Verhalten ab von meiner ADHS unterstellt, bis mich Carsten Donath seinerzeit in Wuppertal auf dem zweiten ADHS Kongress von Andre Fröhlich mehr als deutlich darauf hinwies, daß ich mich gerade deutlich autistischer verhilte, als er es in seinem Leben je getan habe.
    Das sorgt auch heute noch für eion leises sinnieren, ob eine Diagnostik und folgende Beantragung eines GdB nicht sinnhaft sein könne.
    Du bist heute anders.
    Heute hilfst Du Menschen wie mir, die 50 Jahre lang Maskiert haben, weil sie in jungen Jahren mit Prügel bestraft wurden, wenn sie es nciht taten, dabei, die Maske fallen zu lassen.
    Das tut enorm gut.
    Keine Ahnung, was das mit dem winzigen Bisschen an fehl gehender Karriere in meinem Leben macht, letztlich ist mir das aber heute endlich auch gleichgültig. Da gibts halt ncihts zu holen, machen wir das beste daraus.
    Ohne Masken.
    Schön, Dich zu kennen.

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