Dann war da noch die Sache mit der Empathie

Regine Winkelmann

Es gibt nach wie vor genug Menschen, ohne Autismus, die anderen erklären wie Autisten sind, wie sie denken und warum sie so sind, wie sie sind. Es gibt immer noch einige, die glauben, dass Autisten keine Gefühle haben, keine Empathiefähigkeit und nicht beziehungsfähig sind.
Wie kommen sie nur darauf?
Ob diesen Menschen wohl die Empathie fehlt? Die Fähigkeit sich in uns hineinzuversetzen, welche Art Gefühle diese Aussagen bei uns hinterlassen?

Ich lebe, wie viele erwachsene Autisten, in einer festen Partnerschaft mit meinem Mann, der Vater meiner vier Kinder ist. Und das ist gut so.
Ich brauche und benötige immer intakte und verlässliche Beziehungen. Ich brauche Menschen, die mir vertraut sind und an deren Seite ich mich sicher fühle.
Meines Erachtens benötigen das die meisten Menschen, aber ganz sicher die meisten Autisten.
Da es mir oft nicht gelingt, aus der Intuition heraus, die Menschen einschätzen und verstehen zu können, ist mir eine bekannte verlässliche Person an meiner Seite eine große Hilfe. Durch ihre mir bekannte Stimmung, an ihrem mir bekannten Verhalten, den Äußerungen, ist es mir möglich zu erkennen, wie sicher oder wie riskant es gerade ist, in einer fremden Menschengruppe zu sein.
Solche Menschen sind mir ein Barometer. Ohne so einem „Barometer“ an meiner Seite ist jede neue Begegnung eine unglaubliche Mühe und ein mit Missverständnissen und Irritationen übersäter Kampfplatz.
Ich hatte immer gute Begleiter, ein wohlwollendes Elternhaus, eine handvoll vernünftige Lehrer, einen Partner und heute auch eine Assistenz.
Ich hatte viel Glück. Ohne gute Begleiter hätte so manches in meinem Leben so anders kommen können.

Bei der üblichen Frage, die im Zusammenhang mit einer Autismus Diagnose gestellt wird: „Hatten Sie Freunde?“, antworte ich daher wahrheitsgemäß mit „Ja“.
Ohne diesen Freunden hätte ich nämlich nicht die Schulzeit überstanden.
Ob „meine Freunde“ nun vergleichbar sind, mit den Freunden und den Freundschaftserwartungen der anderen Menschen, weiß ich nicht zu beurteilen.
Es mag da unterschiedliche Auffassungen geben. Meine ersten wahren Freunde, waren meine Mutter und meine Oma. Meine Geschwister auf eine etwas andere Art, aber ja, ich bin mir sicher, ich liebte sie. Aufrichtig und mit demselben leichten schmerzhaften Ziehen im Brustkorb, den ich immer als das Maß benötige für die eigene Einschätzung, wie wichtig mir ein Mensch im Leben ist.
Was er für mich bedeutet.
Es gab schon immer Menschen in meinem Leben, die liebte ich bis zur Schmerzgrenze und die Überprüfung bei der Frage, die ich mir stellte, was ich wohl empfinden würde, wenn ich diesen Menschen verlöre, löste einen heftigen Schmerz aus.

So, dass ich dies auf einer Skala von 0 bis 10 als höchsten Richtwert annehmen konnte.

          1  2  3  4  5  6  7  8  9  10

Ich dachte bereits früh darüber nach, dass Liebe und Freundschaft stets gekoppelt ist, mit Angst und Schmerz – mit der Sorge vor einem Verlust, der manchmal sogar das gute Gefühl, was man hat, wenn man Menschen liebt, überschatteten kann.

Die Zahl 10 war also der Wert den ich meinen unmittelbaren Bezugspersonen zu ordnete.
Ich malte mir aus, was es bedeutete, wenn ich meine Mutter oder meine Oma verlöre und ich war noch kein Schulkind, als mich abends beim Nachdenken in meinem Bett eine heftige Panik überfiel.
Ich hatte eine Aussage aufgeschnappt. “Wenn ich mal nicht mehr bin.” hatte meine Oma gesagt. Und mir war gnadenlos bewusst geworden, dass jede Beziehung, so sicher sie auch scheinbar war, etwas Instabiles und Fragiles ist. Etwas, was nie konstant und für immer da ist.
Wenn ich zurückblicke auf meine ersten Erfahrungen mit Menschen, die nicht unmittelbar zu meiner Familie gehörten, dann war das der Kindergarten und die Schulzeit. Das war Feindesland. Das waren die Orte, an denen ich unmittelbar erfuhr und erlebte, dass ich nicht einfach nur da war, sondern irgendwie zu sein hatte.
Der Kindergarten war kurz und schmerzhaft, aber eben aufgrund der Kürze ohne nennenswerte Bedeutung. Nicht integrierbar, man hätte alles Mögliche versucht. Das Kind spricht ja nicht einmal. Also durfte ich nach etwa drei Wochen wieder zu Hause bleiben.
In der Schule war es anders. Es gab kein Entkommen. Hier mussten Erwartungen erfüllt werden und die ersten Grundschuljahre erlebte ich mit regelmäßigem Krankheitsgefühl und manchmal mit Erbrechen im Klassenzimmer.
Ich verstand meine Mitschüler nicht. Nicht ihre Art und nicht ihre Spiele. Die Späße waren dumm oder nicht witzig.
Meine Späße schienen sie wiederum nicht zu verstehen und so gab es wenige oder nur sparsame Beziehungen.
Die wenigen aber, benötigte ich so dringend, dass ich für sie hätte alles gegeben. Die wenigen, brauchte ich nicht für meinen eigenen Zeitvertreib, dafür reichte ich mir vollkommen alleine. Die wenigen benötigte ich zu meiner Sicherheit, an meiner Seite, als Barometer eben, das mir anzeigt, wann eine Situation eine Spaßige und wann sie eine Ernste war. Wann und was es galt zu äußern oder wann man besser den Mund hielt. Ich kopierte mitunter sämtliche Verhaltensgewohnheiten einer jeden Mitschülerin, die sich eine Zeit lang „meine Freundin“ nannte.
Am liebsten aber hielt ich mich dort auf, wo auch Erwachsene waren. Das war immer ein bisschen sicherer.

In der vierten Klasse bekam ich eine neue Lehrerin. Die liebte ich sehr. Auch wenn sie mich kaum zu bemerken schien, war sie für mich das Maß aller bisherigen Lehrerinnen. Obwohl sie sogar das von mir meistgehasste Fach unterrichtete; Mathematik.
Tief in Gedanken versunken, diese Lehrerin auf meine Skala einzuordnen, wo bisher noch kein Lehrer von mir zugeordnet wurde, spürte ich bei der Vorstellung davon, dass sie ein LKW erwischte, ein Ziehen im Brustkorb, dass mindestens eine 7 sein musste. Eine grüne schöne 7.

           7

Und ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als sie mich aufforderte die richtige Lösung der Aufgabe zu sagen, die sie an die Tafel geschrieben hatte.
Ich war also ertappt, dass ich überhaupt nicht aufgepasst hatte, sondern wie so oft in meinen Gedanken abgetaucht war.
Mir wurde heiß und mir fiel keine bessere Antwort ein als “7”.
“Bravo, richtig Regine…”
Wir waren wohl beide überrascht.
Da überkam mich so viel Glück und empfundene Zuneigung, dass sie sofort auf meiner Skala auf eine schöne, dicke, satte dunkelrote 8 rutschte.

           8


“Autisten fühlen wesentlich mehr als Nichtautisten, sie sind wesentlich empfindlicher und emphatischer als wir bisher angenommen haben.
Wir sagen Autisten fehlt Empathie. Nein. Uns fehlt sie. Für die Autisten.“
Hirnforscher Henry Markram

 

Je älter wir in unserem Klassenverband wurden, desto diffuser wurden mir die sozialen Regeln.
Es schien nie wirklich etwas zu stimmen. Ich konnte nie sicher gehen, eine Bemerkung, einen Witz, eine Äußerung richtig verstanden zu haben. Meine Reaktionen und Antworten waren meistens für die anderen „der Brüller“ Ich hatte das Gefühl, ich passe nicht annähernd und niemals in das übliche Schema.
Sie und ich wurden älter und gleichzeitig immer verschiedener.  Sie wurden älter in Dingen, wo ich Kind blieb.
Sie waren Kinder in meinen Augen, wo ich mich ihnen gegenüber sehr erwachsen und abgeklärt fühlte.
Eine Schere die auseinander ging, und die ich heute noch so empfinde und auch an meinen Kindern und deren Altersentsprechungen ebenso beobachtet habe.
Soziale Verwirrungen klären und nachfragen, konnte ich bei wenigen. Denn die Mädchen waren heute freundlich und morgen alles andere als das. Sie behaupteten beste Freundinnen zu sein – doch dann redeten sie schlecht übereinander.
Die Jungen waren meistens freundlich, sie waren geradeheraus und weniger wechselnde Gemütszustände schienen sie zu haben.
Aber in sozialen Verwirrungen schienen auch sie ungeeignete Übersetzer zu sein.
Jeder Tag war riskant und unberechenbar. Jeder Tag aufs Neue eine Anstrengung. Das schlimmste waren Pausen oder Freistunden. Die größten Katastrophen aber Klassenfahrten. Regelmäßig war oder wurde ich dort krank.
Die dauerhafte Anstrengung der sozialen Missverständnisse, die Anpassungsbemühungen, der fremde Ort, der fremde Rhythmus und keine Chance auf Rückzug brachte mich (so weiß ich heute) jeden Tag in Overloadzustände.
Für die anderen sah es anders aus.
Entweder war ich in ihren Augen krank oder ich stellte mich an. Entweder war ich frech oder blöd.
Wenn man sich nicht mitteilen und seine Bedürfnisse verständlich machen kann, wenn es kein Entkommen gibt aus Situationen, die das Gehirn in dauernder Alarmbereitschaft hält, erfindet der Körper Strategien, die ihm die nötigen Ressourcen sichern, die er unmittelbar zum Durchhalten braucht. Durchhalten wenigstens diese fünf Tage. Eine Fahrt in die Eifel von Montag bis Freitag.
Mit Erbrechen und starken Kopfschmerzen durfte ich endlich auf das Zimmer und kroch dankbar ins Bett. Krank brauchte ich nicht an den allgemeinen Veranstaltungen, Tagesprogrammen, etc. teilzunehmen.
Ich war raus aus der Nummer, wenn ich nur genügend Symptome hatte. So wird Krankheit zum Mittel.
Eine verlässliche Begleitung einen Dolmetscher hätte ich benötigt. Der hätte es mir erleichtert und mit diesem hätte ich die Chance gehabt einige soziale Irritationen zu verstehen und möglicherweise zu umgehen. Er hätte für mich gesprochen und erkannt, dass meine sensorischen, emotionalen und sozialen Aufnahmekapazitäten längst überschritten waren. Er hätte gesagt, dass ich mich zurückziehen darf, noch bevor ich mich im Speisesaal vor aller Augen, weinend und auf dem Boden liegend erbrach. So einen aber hatte ich nicht.
Wenn man keinen Begleiter hat, erklärt man sich die vielen Verwirrungen die undurchsichtigen Äußerungen, Erlebnisse, Beobachtungen sozialer Zwischenmenschlichkeit eben selbst.
Als einzige Spezies meiner Art, die völlig andere Vorstellungen hat, von dem, was Richtig ist und von dem wie man zu sein hatte – lag ich meistens falsch.
So hielt ich mich also meistens an jeden, der einigermaßen freundlich zu mir war. Und wer freundlich war, der war mein Freund.
Kann man einer Begleitung, einer Person, an die man sich aus Not anhänglich orientiert, bedingungslos trauen? Sind ihre Erklärungen denn allgemeingültig und entsprechen den moralischen, sozialen Standards?
Natürlich nicht. Aber für mich ist es nicht zu erkennen, ob die eine oder andere Person auch wirklich mir gegenüber diese „Führungsqualitäten“ die ich ihr zuordne verdient. Ich denke noch heute manchmal, wer freundlich ist, ist ein Freund – obwohl ich längst genug Erfahrungen gemacht habe, die mir diese Naivität hätten austreiben müssen.
Ich bin wie die meisten Autisten angewiesen auf Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit.
Da ich selbst zu jedem Menschen, der mir Nahe ist, tiefe Loyalität empfinde und ich nicht anders kann, als meine eigene Sicht und Empfindung als Allgemeingültig voraus zusetzen, gehe ich bei jeder Freundlichkeit und Zugewandtheit anderer davon aus, dass sie ehrlich und aufrichtig gemeint ist.
Eine andere Absicht und Ambition als die, die mir mitgeteilt wird, mit entsprechenden Worten, erkenne ich nicht.
“Na du bist ja eine ganz Schlaue, was?”
Ich muss solche Aussagen mühsam aus kognitiven Wissen und gemachten Erfahrungen entschlüsseln. Ich muss mich selbst bewusst ermahnen, dass die Menschen selten das meinen, was sie sagen. Und noch seltener das tun, was sie vorgeben zu tun.
Ein Trugschluss eben zu glauben, das jemand ehrlich ist, wenn er sagt, “Ich gebe dir mein Wort”.
Trotz des Wissens, dass die wenigsten Menschen wahrheitsliebend und authentisch sind, bin ich nicht in der Lage eine hier konstant aktive-kognitive Abwehrhaltungen zu meinem persönlichen Schutz herzustellen.
Leider gehöre ich zu den Wesen, die eine Affinität zu ihren Mitmenschen verspüren. Und darum suche ich sie immer wieder auf. Ich gehöre zu den Wesen, die selten aufgeben – aber die leider auch nicht aus ihren Fehlern lernen wollen, also begebe ich mich nach einiger Erholungszeit immer wieder unter Menschen.
Und so habe ich, wie viele meiner Mitbetroffenen stets zu den leichten Opfern gehört, zu denen, die alle Fettnäpfchen mit nahmen, die man mir aufstellte, – aus reinem Vergnügen und vielleicht auch manchmal aus Boshaftigkeit oder Berechnung.

Und doch haben diese Erfahrungen mir die Liebe zu den Menschen nicht verdorben. Die meisten Menschen, mit denen ich zu tun habe, stehen auf meiner Skala.
Und diese beginnt bei null, mit einem neutralen aber durchaus freundlichem Gefühl.
Es gibt keine Minuszahl. Es geht nie in die andere Richtung – es gibt allenfalls Menschen die einfach von meiner Skala fliegen, weil sie mir gleichgültig geworden sind. Aber auch die, die mich übelst enttäuscht haben rutschen, nicht ins Minus.
Ich empfinde nie Hass oder Groll gegen eine Person. Unverständnis und Traurigkeit, ist es. Solange bis die Wunden verheilt sind und ich das abspeichere unter  “gemachte Erfahrungen”.

Diese werden mich nie abhalten, neue Begegnungen zu wagen und jeder Person einen Platz auf meiner Skala anzubieten. Denn die Zugewandtheit zu Personen ist ein sehr gutes Gefühl. Ich kann sie empfinden von 0 bis 10
Und 10, das ist der Wert, den die meisten Menschen wohl mit Liebe bezeichnen.
Diese Liebe ist etwas, was ich meinerseits intensiv empfinde – und zwar zugerichtet zu dieser Person hin. Das ist ein Gefühl, verbunden mit dem Wissen, dass ich diese Person liebe. Es ist nicht verbunden mit den Erwartungen, dass ich diese Liebe als Rückantwort spüre.
Ich bin der Sender in die eine Richtung. Ich habe keinen Empfang.
Ich weiß nicht wie es sich anfühlt, wenn Menschen angeblich spüren, dass sie jemand sie liebt. Wie soll das gehen? Was sollen sie denn da fühlen? Sie sind doch nicht in dem Kopf des anderen.
Also an was machen sie es fest? An die Anzahl der Aussagen? “Schatz, ich liebe dich”? An irgend solche Äußerlichkeiten müssen sie es festmachen.  An entsprechende Blicke, und wehe sie sind zu flüchtig oder passen in der Anzahl nicht.  An kleinen Aufmerksamkeiten, Berührungen oder Blumensträuße, die nach einigen Jahren Ehe sicherlich immer weniger werden?
Wissen sie nicht, dass das nur Dinge sind, das dies wieder nur Worte sind? Die bewusst eingesetzt werden, und meistens an Bedingungen geknüpft sind?

Sie werden selten Autisten kennengelernt haben, die so häufig Dinge sagen, die sie nicht meinen, wie das bei Nichtautisten vorkommt.
Sie werden selten so viel vorgetäuschte affektierte Verhaltensweisen während sozialer Begegnungen bei Autisten sehen, wie das bei Nichtautisten der Fall ist.
Sie werden selten einen Autisten begegnen der Liebe heuchelt und seine Mitmenschen betrügt oder ihnen gegenüber illoyal ist.
Sie werden, diese Schauspielerei, die sie als Sozialkompetenzen bezeichnen, bei den meisten Autisten nicht erleben.

Und weil sie es bei uns nicht erleben,  eine überzogene und bewusst eingesetzte Affektivität bei uns vermissen, nehmen sie an, dass wir weniger empfindungsfähig sind? Weil wir von sozialen Begegnungen schneller satt sind und diese nicht einfach so aus Zeitvertreib suchen, und vor allem nicht so inflationär – nehmen Nichtautisten an, dass wir kein Interesse an unseren Mitmenschen haben?
Damit machen sie es sich zu einfach.

Regine Winkelmann

Nach abgeschlossenem Designstudium 1990 brachte sie vier Kinder zur Welt und widmete sich in dieser Zeit ihren Spezialinteressen, der Kunst, Musik und Medizin. Seit der ersten Buchveröffentlichung 2015 widmet sie sich verstärkt der Öffentlichkeitsarbeit. Als Referentin und Autorin hält sie Vorträge und Lesungen über Autismus und artverwandte Neurodivergenz aus ihrer eigenen Perspektive als Autistin mit ADHS. Neben verschiedenen Publikationen verfasst sie Videomaterial und organisiert regelmäßig Kongresse, mit dem Ziel, Betroffenen dort eine Stimme zu geben.

Eine Antwort

  1. Ein sehr schöner Artikel. Schön für mich, weil dieser Artikel eine stimmige Erklärung ist, eine die ich für mich bisher nicht habe fassen können (RW).

    Danke

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