Geht doch!

Regine Winkelmann

Das sagt sich so leicht. Wie macht man für andere Menschen die Energie sichtbar, die man gar nicht mehr hat?
Wie erklärt man die dauernde Erschöpfung, wenn man doch kaum wirkliche Gründe dafür nachzuweisen hat?

Für die meisten Autisten ist die Erschöpfung ein Dauerbegleiter. Und hier geht es nicht um Erschöpfung im Sinne einer wohligen Müdigkeit, entstanden aus einem ergiebigen Tagwerk, sondern um ein ständiges Auszehrungsgefühl, das jeder Mensch empfindet, der über viele Jahre dauernd über die eigenen Grenzen geht.
Es geht um eine permanente Entleerung des Energiehaushaltes, der sich auch mit keiner Nacht, oder keinem Wochenende wieder füllen lässt.
Wir alle wissen, dass diese chronische Dauerbelastungen nicht nur krank macht und irgendwann zum totalen Zusammenbruch führt, sondern dass aus diesem Zustand heraus, auf das vorhandene Potenzial, auch gar nicht zugegriffen werden kann.
Jeder Person, die sich in diesem Zustand befindet, rät man dringend, „kürzerzutreten“, eine Auszeit einzulegen, sich Hilfe und Unterstützung zu holen oder auch eine Kur zu beantragen.
Und überwiegend gibt es für diesen Zustand auch einen Grund. Da sind z.B. jahrelange berufliche Belastungen, Doppelbelastungen mit Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen und vieles, was Menschen leisten, zu nennen.

Für viele Autisten oder auch Menschen mit chronischen Erkrankungen reicht allerdings der ganz normale Alltag bereits aus, um in diese Spirale der Dauererschöpfung zu geraten. Immer dann nämlich, wenn der Tag mehr von uns verlangt, als uns die folgende Nacht an Energie zurückgibt.
Wer den Tag mit einem halbleeren Akku beginnt, ist bereits mittags in seinem Reservezustand angekommen. Seine Alltagsdinge noch nicht annähernd erledigt, doch die Erschöpfung bereits so ausgeprägt, dass die Restarbeit liegenbleibt.

„Nur noch schnell den Müll runterbringen!“
Mit den Mülltüten in der Hand, vor der Wohnungstür stehend, war es mir unmöglich den Hausflur zu betreten. Weil die Vorstellung, eventueller Begegnungen mit Nachbarn mir plötzlich die Luft nahm.
“Was geschieht mit mir? Warum bricht mir der Schweiß aus, rast mein Puls und wieso fühle ich mich plötzlich so elend und schwindelig? Der Vorbote eines Zusammenbruchs? Irgendwann musste das ja passieren. Aber doch nicht jetzt? Doch nicht wegen so einer Bagatelle?“

Ja, und irgendwann geht gar nichts mehr. Für andere sieht das so aus, als käme es aus „heiterem Himmel“. Für uns selbst ist es nicht weniger überraschend. Doch wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann haben wir es kommen sehen. 

“Was genau war denn der Auslöser?“, fragte der Arzt später. Meine Antwort, dass ich doch nur den Müll raustragen wollte, klang schon ein wenig peinlich.
Es brauchte Jahre, bis ich an diesen und vielen anderen kleinen „Bagatellen“ erkennen konnte, dass es gar nicht um den Müll ging. Nicht um die eine Aufgabe, nicht die Tätigkeit an sich. Sondern um das, was alles noch daran hing.
Das, was für andere Leute nicht sichtbar ist und auch selten ein Problem, raubt mir all die Energie, die ich bräuchte, um genauso am Leben teilhaben zu können, wie sie.

Soziale Begegnungen, und seien es nur diese kurzen Momente in einem Hausflur, während des Einkaufs oder wenn unvorhersehbar das Telefon klingelt, sind Alltagsherausforderungen, die vielen Autisten alles abverlangen. Die ihnen sämtliche Energiereserven rauben, von denen sie leider selten genug haben.

Die Autorin und unsere Referentin für unseren kommenden Autismus-Kongress, Stephanie Meer-Walter, spricht bei der „Hausflurbegegnung“ schon von einem autistischen Klassiker. Was wohl zeigt, dass ich hier ganz und gar nicht mit meiner Empfindung alleine dastehe.

In ihrem 22. Podcast geht es um das Thema Erschöpfung – vielleicht hört ihr mal bei ihr rein.  Zum Podcast

Kennt ihr auch solche Hausflurbegegnungen? Und warum verlangt es euch so viel ab?
Teilt das doch gerne im Kommentarfeld mit.

 

Regine Winkelmann

Nach abgeschlossenem Designstudium 1990 brachte sie vier Kinder zur Welt und widmete sich in dieser Zeit ihren Spezialinteressen, der Kunst, Musik und Medizin. Seit der ersten Buchveröffentlichung 2015 widmet sie sich verstärkt der Öffentlichkeitsarbeit. Als Referentin und Autorin hält sie Vorträge und Lesungen über Autismus und artverwandte Neurodivergenz aus ihrer eigenen Perspektive als Autistin mit ADHS. Neben verschiedenen Publikationen verfasst sie Videomaterial und organisiert regelmäßig Kongresse, mit dem Ziel, Betroffenen dort eine Stimme zu geben.

2 Antworten

  1. Aktuell geht es mir auch so. Ich habe mit 16 erst die Diagnose bekommen. Kurz bevor ich einen Schulwechsel hatte. Mittlerweile bin ich um die 20 und hole das Abitur nach. Eines Tages, vor vielleicht vier oder fünf Monaten , hatte ich eine unschöne Begegnung erleben müssen. Ich sollte mir ein schlechtes Theaterstück mit der Klasse im Staatstheater ansehen, was ich eigentlich nicht wollte. Trotzdem habe ich wie von jedem erwartet, Geld in die Klassenkasse dazugegeben. Als ich am Abend schließlich nach einem Termin nur 2-5 Minuten zu spät war am Theater, ließ man mich die Vorstellung nicht sehen. Ich war danach so kraftlos, dass ich eine Woche nicht mehr zur Schule ging. Ich wünschte mir damals sehr, dass das Theater ein Ende habe… Eigentlich nur eine Kleinigkeit, wie die Neurotypischen meinen, aber für mich ist es eine Einschränkung. Mit der Zeit machten mich immer mehr Dinge kraftlos und erschöpft. Immer mehr fällt mir alles schwer. Gestern z.B konnte ich nicht zum Unterricht. Fehlzeiten, wegen Krankheit und dieser Erschöpfung. Ich gebe Gas, versuche alles und jedem gerecht zu werden, schreibe recht gute Noten in den meisten Fächern, bis auf Mathe, Englisch und Französisch, versuche meinen Anforderungen, aber auch den Anforderungen anderer gerecht zu werden. Ich bin in einer Fassade, welche bröckelt gefangen. Ich fühle mich in der Schule wohl, doch ich bin kraftlos. Vor zwei Jahren bin ich in meiner ersten Wohnung gezogen und wollte selbstständig sein. Jedoch war auch das Fassade. Ich bin kraftlos. Selbst meine Spezialinteressen lassen mich nicht zur Ruhe kommen und gerade die Aquarellmalerei oder die analoge Fotografie sind früher meine Kraftquelle gewesen. Selbst eine Kleinigkeit, wie einkaufen strengt mich an. Meine Schwester besuchen, meine Eltern besuchen oder meinem Bruder besuchen. Geburtstage, alles…Mich graut es vor dem Geburtstag meines Bruders. Er läd Menschen ein, die ich kaum kenne. Meine Schwester lud Menschen ein, die die Grenze dessen, was ich aushalte übersteigt. Ich bin kraftlos! Doch irgendetwas machte mich derzeit erschöpft. Ich weiß nicht genau was. Ich war vor den Pfingstferien mehrere Wochen krank. Und in den Ferien hätte ich für die Schule üben sollen, aber da bahnte sich schon etwas an, die Erschöpfung. Es liegt aber nicht an der Schule. Ich lerne gerne. Und trotzdem bin ich erschöpft.

  2. Das trifft es auf den Punkt.
    Mein Hausflurerlebnis sah folgendermaßen aus:
    Es begab sich im Rahmen einer Eignungsabklärung, einen Schnupper-Tag in eine der Umschulungs-Klassen einzulegen um herauszufinden, ob das was für einen ist. In der Mittagspause saß ich dann vor meinem Essen, schaute das Besteck an und dachte wie soll ich jetzt essen? Wie soll das gehen? Mal abgesehen davon, daß ich keinen Hunger hatte, was nicht unüblich ist, konnte ich mit dem Zeug, was da vor mir stand nichts anfangen. Ich habe dann versucht zu essen, aber ich konnte weder vernünftig kauen noch schlucken. Es war einfach zu viel. Und dann bin ich in Tränen ausgebrochen. Ich hätte mich beim Lehrer abmelden müssen, aber ich war noch nicht mal in der Lage eine Gabel zu halten. Ich weiß auch gar nicht mehr genau wie es dann weiter ging, ich glaube ich habe einen der Umschüler gebeten mich bei dem Lehrer zu entschuldigen.

    Es ist wie ein Gewitter was sich zusammenbraut. Man kann schlecht sagen ob es sich bald wieder verzieht, ob es nur Wetterleuchten sind, ob es ein warmer Sommerregen wird oder ob es anfängt zu stürmen aus Kübeln zu schütten und ob Blitze einschlagen. Das alles weiß man erst, wenn es soweit ist. Aber die Prognosen gibt es. Aber die sind genauso zuverlässig wie der Wetterbericht. Wenn´s heute nicht regnet dann in einer Woche, aber es wird regnen, soviel steht fest.

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