Früher war ich falsch – heute bin ich anders

Sabine Kraus

Buchbesprechung 

Winkelmann, Regine: Früher war ich falsch…heute bin ich anders. 

Worum es geht

In ihrer Autobiografie von 2015 lässt Regine Winkelmann den Leser Anteil nehmen an dem Rückblick auf ihr bisheriges Leben, kurz nachdem sich durch ihre Autismusdiagnose Erklärungen dafür gefunden hat, warum bei ihr manches anders und schwieriger gelaufen ist. Wir begleiten sie durch einen Prozess der Selbstreflexion, wie ihn wohl alle durchlaufen, die erst im Erwachsenenalter einen Namen für ihre Andersartigkeit gefunden haben. 

Ein ganz besonderes Buch

Winkelmanns Schilderungen sind ganz nah an ihrem eigenen Erleben, sie machen regelrecht „Kino im Kopf“. Anstatt sich hinter Allgemeinplätzen zu verstecken, zeigt sie die Szenen aus ihrer Erinnerung in einer frappierenden Offenheit angesichts der Tatsache, dass eine unbestimmte Anzahl unbekannter Menschen so Einblick in ihr Innerstes und das ihrer Familie erhält. Das erfordert eine Menge Mut! Mitunter ist es mir sehr nahe gegangen, ihre zum Teil schmerzhaften, demütigenden oder sogar traumatischen Erfahrungen nachzuempfinden. Gerade diese Schonungslosigkeit macht die Qualität des Buches aus, es entsteht eine größere Nähe als bei anderen Autobiografien Betroffener, die ich bisher gelesen habe. 

Mit den Augen einer Frau

Auch in diesem Buch wird deutlich, dass autistische Frauen eine andere Sicht und andere Erfahrungen haben als betroffene Männer. Mir scheint es als wären sie eher in der Lage, sich selbst und ihre Gefühle wahrzunehmen, zu betrachten und ihre Erkenntnisse in eine sprachliche Form zu gießen. Dadurch wird autistisches Erleben auch für neurotypische Menschen nachvollziehbar, was ein Weg ist um für mehr Verständnis und Mitgefühl zu werben. Eine Erkenntnis aus Winkelmanns Beschreibungen ist, dass Frauen mit Autismus Gefahr laufen, in Beziehungen schmerzliche Erfahrungen zu machen bis an die Grenze des Missbrauchs. Es beginnt mit ihrer Vater-Tochter-Beziehung, die erschüttert wird durch einen massiven Vertrauensbruch im Kindesalter, als dieser sich über die Naivität und Hilflosigkeit der kleinen Regine lustig macht. Als junge Frau gerät sie an Partner, die sie wiederum allein lassen und verächtlich machen, sie nutzen dabei ihr existenzielles Bedürfnis nach der Gegenwart einer vertrauten Bezugsperson aus. Selbst einem übergriffigen sexuellen Kontakt vermag sie nichts entgegenzusetzen. Allgemein betrachtet, ist hier die Aufmerksamkeit von Eltern, therapeutischen Fachkräften und anderen gefragt, autistische Mädchen und junge Frauen zu schützen und zu begleiten, wenn es um Freundschaft. Liebe und Sexualität geht. Es ist bewundernswert, dass es Winkelmann gelungen ist, trotz alldem die Zuversicht nicht zu verlieren und sich auf enge Beziehungen einzulassen. Sie lebt nun in einer guten Ehe mit einem Partner, der sie achtet und unterstützt, hat eine Familie gegründet, steht zu sich und verwirklicht ihre Fähigkeiten im beruflichen Bereich. Eindringlich beschreibt sie die große Mutterliebe zu ihren Kindern, für die sie sich sehr einsetzt. 

Fazit

„Früher war ich falsch…heute bin ich anders“ ist eine bereichernde Lektüre für alle, die sich auf eine intensive, subjektive Lebensbeschreibung einlassen möchten. Ich gehe davon aus, dass gewisse Vorkenntnisse über das Asperger-Syndrom Voraussetzung dafür 

sind, die Berichte gut einordnen zu können. Neulingen zum Thema Autismus oder Leser*innen, die nach konkreten Handlungsempfehlungen suchen, sei eher Lektüre empfohlen, deren Ziel es ist allgemeine Infos zu vermitteln, wie die aktuellen Bücher von Christine Preissmann oder Peter Schmidt. 

Das Buch erhalten Sie in allen Buchläden und Onlineshops 

Sabine Kraus

geboren 1977 hat im Alter von 36 Jahren eine Diagnose aus dem autistischen Spektrum erhalten. Sie hat Anglistik und Germanistik (Literaturwissenschaften) studiert und war als Lehrkraft für Englisch in der Erwachsenenbildung tätig. Heute ist sie in einem Autismus-Therapiezentrum beschäftigt, wo sie neben der Verwaltung Aufgaben in der Selbsthilfe, Öffentlichkeitsarbeit und Beratung wahrnimmt. In ihren Beiträgen möchte sie aus ihrer weiblichen Sicht verdeutlichen, dass sich bei vielen Frauen Autismus nicht wie aus dem Lehrbuch zeigt. Im Blog schreibt sie unter einem Pseudonym, weil die zum Teil persönlichen Inhalte unbeschränkt online eingesehen und geteilt werden können. Damit möchte sie ihre Privatsphäre schützen.

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