Ich spielte still, ich spielte nur in meinem Kopf

Regine Winkelmann

Solange ich klein genug war, saß ich unter der Eckbank in der Küche.
Dort spielte ich mit meinen Tierfiguren, mit Steinen oder Murmeln. Ich brauchte nicht viel, aber ich brauchte immer genügend Stifte und Papier.
Ich war, seit ich denken kann glücklich, wenn ich zu Hause war.
Wenn alle da waren, die zu meinem “zu Hause“ gehörten.
Wenn ich wusste, dass keiner fehlte. Und, wenn mich alle in meiner Welt leben ließen. Meine kleine Welt unter der Eckbank in der Küche.
Dort blieb die Zeit stehen und dort war das Risiko gering, dass mir jemand in meine Gedanken quatschte. Ich spielte meist still, denn es geschah alles in meinem Kopf.
Ich glaube sogar, weil ich so still war, vergaß man mich manchmal dort für eine Weile.

Meine Tiere lebten in einer unglaublich perfekten Welt. Sie hatten alles, was sie brauchten. Das Meer für die Meerestiere und den Wald für die Waldbewohner. Tiere, die in der Wüste lebten, gehörten in die Wüste und auch sonst, lief alles in meiner Welt, in meinem Tempo, meinem Takt, und nach meiner Vorstellung von Richtigkeit.
Gab es jemanden, der mit mir spielen wollte, war das unvorstellbar.
Wie sollte das gehen?
Sie machten alles falsch. Sie nahmen die Tiere und setzten sie in Konstellationen, die nicht artgerecht waren, sie ließen die Tiere unsinnige Dinge sagen, die sie niemals gesagt hätten.
Sie nahmen den Haifisch aus dem Meer, taten so als würde er durch die Luft fliegen können… und taten so als könne der Haifisch die Hasen im Wald fressen.

“Haifische gehören nicht in den Wald” sagte ich – “das ist dumm.”
“Du bist ja selber dumm – kannst ja gar nicht richtig spielen”, kam es dann zurück.

Daran erkannte ich, dass andere niemals in meine Welt folgen konnten. Sie mussten also eine ganz andere und eigene haben. Aber mit der wollte ich nichts zu tun haben.
Schon deshalb war es doch klug, wenn ich mich mit meinen wichtigen Dingen unter die Eckbank verzog, da wo größere Menschen allenfalls mal mit einem Besen vordrangen – was natürlich viel Geschrei meinerseits auslöste.
Das waren unvorhersehbare schwere Naturkatastrophen, haarige Eindringlinge und das Ausmaß der Zerstörung war der vorübergehende Untergang – meiner kleinen Welt – gelegentlich gefolgt von einem kleinen bis mittelschweren Meltdown.
Doch sobald wir uns alle davon erholt hatten, baute ich meine Welt wieder auf. Alleine und still und manchmal sogar noch perfekter als vorher.
Ich kann diese Zufriedenheit kaum beschreiben, aber sie war schon sehr groß. Nach Außen mag das anders ausgesehen haben. Nach Außen hin war ich still und einsam. Und das halten Erwachsene oft nicht gut aus, denn Kinder sind nicht gerne still und einsam.
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“Spiele doch mal mit den anderen Kindern”
“Du spielst ja gar nicht, ist es dir nicht gut?”

Doch ich versichere Ihnen, es waren alles andere, als einsame Stunden, die ich dort verbrachte. Auch wenn es still war für die anderen, in meinem Kopf war es das nie. Dort war ich glücklich. Es war laut und bunt, wenn ich es so wollte und es war der friedlichste Ort, wenn ich einen solchen nötig hatte.

Und so kann ich noch heute, zu jeder Zeit weit abtauchen in eine Welt, die ich mir wie ein Filmstudio selbst erschaffe. Dazu benötige ich nichts weiter als Ruhe und ausgiebig Zeit mit mir alleine. Dann tauche ich ab und erschaffe sie mir. Meine Welt, meinen Wald, meine Tiere und all das, was mir bekannt vertraut und lieb ist.
Die Fähigkeit in diese Welt zu fliehen, jederzeit, auch wenn man unter keiner Eckbank mehr passt, ist ein Geschenk. Und jeder der diese Fähigkeit und Möglichkeit hat, kann sich wahrlich glücklich schätzen.

Ich bin sicher, dass ich meine Kindheit und auch heute viele Begegnungen nur deshalb unbeschadet überstand, weil ich zwischen diesen Welten wandern kann.

Regine Winkelmann

Nach abgeschlossenem Designstudium 1990 brachte sie vier Kinder zur Welt und widmete sich in dieser Zeit ihren Spezialinteressen, der Kunst, Musik und Medizin. Seit der ersten Buchveröffentlichung 2015 widmet sie sich verstärkt der Öffentlichkeitsarbeit. Als Referentin und Autorin hält sie Vorträge und Lesungen über Autismus und artverwandte Neurodivergenz aus ihrer eigenen Perspektive als Autistin mit ADHS. Neben verschiedenen Publikationen verfasst sie Videomaterial und organisiert regelmäßig Kongresse, mit dem Ziel, Betroffenen dort eine Stimme zu geben.

Eine Antwort

  1. Vielen Dank für diese Zeilen. Sie trösten mich so unglaublich. Mein Sohn (ASS) spielt Stunden mit seinen Schleichtieren oder malt im größten Trubel. Er kann sich dabei aus den Situationen nehmen. Aber manchmal da nagt der Schmerz wenn die Kinder außen herumlaufen, lachen und spielen und er bei mir sitzt und malt. Es ist gut für mich, wenn es gut für ihn ist. Die Hoffnung dass er das ist steigt bei solchen Artikeln.

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