Menschen im Autismusspektrum und die Corona-Pandemie.

Sabine Kraus

Buchbesprechung

Preissmann, Christine: Menschen im Autismusspektrum und die Corona-Pandemie.

Worum es geht
Die Corona-Pandemie beschäftigt uns alle: Auch im Frühjahr 2021 bleibt sie das dominierende Thema in der medialen Berichterstattung. Wir erleben die Sorgen und Ängste vor einer Ansteckung oder sind selbst und im Umfeld sogar direkt betroffen von der Krankheit. Die Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens auf Abstand sind so groß, dass  jede/r Einzelne sie spürt als einen deutlichen Einschnitt in den Alltag – es fehlt so manches an Nähe, Austausch, Anregung und Zerstreuung, hinzu kommen die wirtschaftlichen Folgen. Wahrend medizinisches Personal oder Beschäftigte im Einzelhandel unter großem Risiko an die Grenzen ihrer Belastbarkeit kommen, arbeiten Andere im Homeoffice, müssen in Kurzarbeit gehen oder verlieren Job oder Existenz sogar gänzlich. Christine Preissmann stellt in ihrem schmalen Band, herausgegeben im Eigenverlag dar, wie Menschen im Autismusspektrum mit dieser Ausnahmesituation umgehen.
Erfahrungsberichte und die Schlüsse daraus
Um sich der Frage anzunähern, hat Frau Preissmann erwachsene Menschen aus dem Spektrum und ihre Familien dazu aufgerufen, ihre Erfahrungen während des ersten Lockdowns und danach in kurzen Beiträgen zu schildern und sie bei ihr einzureichen. Auf diese Weise entsteht ein ungefiltertes und anschauliches Bild dessen, was war und ist. Die persönlichen Schilderungen, die in Ausschnitten in die Kapitel eingewoben sind, sorgen im Buch für Abwechslung, es ist spannend diese in Inhalt und Schreibstil ganz unterschiedlichen Berichte zu lesen. Abgesehen davon hat Frau Preissmann autistischen Menschen die Möglichkeit gegeben, sich in der besonderen Situation ausdrücken und zeigen zu können. Das ist ein Stück Empowerment! Ich hatte selbst einen Beitrag geschickt und mich gefreut, ihn in dem Buch wiederzufinden. Preissmann verleiht dem Buch eine Struktur und ordnet die Erfahrungsberichte in einen größeren Rahmen ein, indem sie in den ersten Teil eine Zustandsbeschreibung setzt und im Anschluss Hinweise gibt, was hilfreich war und sein kann. Auch analysiert sie die Schilderungen, leitet daraus allgemeine Betrachtungen ab. Vieles davon ist nicht unbedingt auf den Umgang mit der Pandemie bezogen, sondern lässt sich allgemein auf die Reaktionen bei Stress und Veränderungen übertragen. Nicht immer ist ein „roter Faden“ zu erkennen, auch die häufig wechselnden Schriftgrade (Überschriften, Spiegelpunkte, kursiv gedruckte Zitate) erschweren mitunter den Lesefluss. Bemerkenswert ist, dass manche autistische Menschen der „Zwangsentschleunigung“ durchaus positive Seiten abgewinnen können. Einiges von dem, was uns schwerfällt, hat sich vermindert oder ist gänzlich weggefallen: Übervolle Terminkalender mit zu wenigen Rückzugsmöglichkeiten, Begegnungen in größeren Menschengruppen, das Leiden an dem Vergleich mit Anderen, der äußere oder innere Druck aus dem vertrauten Umfeld und unter Menschen zu gehen. Das Aussteigen aus dem Hamsterrad hat jedoch nicht nur positive Wirkungen für autistische Menschen. Vor wenigen Tagen erzählte mir eine Bekannte (neuropypisch), dass sie seit Monaten keine Medikamente mehr gegen hohen Blutdruck mehr nehmen muss, das reizärmere Leben hat ihn von sich aus auf ein gesundes Maß sinken lassen. Erschreckend, wie sehr wir als Gesellschaft in unserer sogenannten Normalität offensichtlich an unseren Bedürfnissen vorbeileben!
Fazit
Der schmale Band ist eine gute Lektüre für alle, die Vorwissen beziehungsweise eigene Erfahrungen im Bereich Autismus haben. Er bietet eine Blitzlicht-Aufnahme der gegenwärtigen Situation, die besonders in der Rückschau interessant sein wird. Der Blick lässt sich vergleichen mit dem einer Fotojournalistin, die beobachtend das Geschehen verfolgt und dort auf den Auslöser drückt, wo sich eine Gelegenheit dazu ergibt. Große, tiefgehende Erkenntnisse sind daraus nicht zu erwarten, denn für den historischen Blick braucht es einen zeitlichen Abstand zum Geschehen.  Link zum Buch

Sabine Kraus

geboren 1977 hat im Alter von 36 Jahren eine Diagnose aus dem autistischen Spektrum erhalten. Sie hat Anglistik und Germanistik (Literaturwissenschaften) studiert und war als Lehrkraft für Englisch in der Erwachsenenbildung tätig. Heute ist sie in einem Autismus-Therapiezentrum beschäftigt, wo sie neben der Verwaltung Aufgaben in der Selbsthilfe, Öffentlichkeitsarbeit und Beratung wahrnimmt. In ihren Beiträgen möchte sie aus ihrer weiblichen Sicht verdeutlichen, dass sich bei vielen Frauen Autismus nicht wie aus dem Lehrbuch zeigt. Im Blog schreibt sie unter einem Pseudonym, weil die zum Teil persönlichen Inhalte unbeschränkt online eingesehen und geteilt werden können. Damit möchte sie ihre Privatsphäre schützen.

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