Mit Autismus leben – Eine Ermutigung

Sabine Kraus

Eine Buchbesprechung

Worum es geht

Dr. Christine Preißmann ist eine bekannte Verfasserin von mehreren Fachbüchern zum Thema Autismus aus Sicht einer Betroffenen. Sie hat eine medizinische Ausbildung durchlaufen, was sie zusätzlich fachlich qualifiziert. Mit ihren Vorträgen ist sie bundesweit auf Tagungen und Veranstaltungen präsent, so auch auf den Autismuskongressen in Wuppertal. Sie gibt dadurch Frauen, die ihre Autismusdiagnose erst im Erwachsenenalter bekommen haben, eine deutlich zu hörende Stimme.

In diesem verhältnismäßig schmalen Band (191 Seiten) fasst sie Erkenntnisse und biografische Beschreibungen aus ihren bisherigen Veröffentlichungen auf. Der erste Teil befasst sich nach einer Einleitung zu den Diagnosekriterien entlang des Lebensweges mit Fragen zu Kindheit, Schule und Erwachsenwerden. Der zweite Teil widmet sich speziell den Herausforderungen, vor denen erwachsene Betroffene stehen, zum Beispiel bei Freizeitgestaltung, Reisen, Wohnen und Alltagsbewältigung. 

Jedes Kapitel beginnt mit Erfahrungsberichten aus Preißmanns Leben, geschrieben in einem warmherzigen Ton, der es zulässt sich in ihre Lage einzufühlen und der Bilder im Kopf entstehen lässt. Am Ende eines jeden Abschnitts finden sich allgemein und sachlich formulierte Tipps in Spiegelpunkten, die sich auf die jeweils individuelle Lebenssituation übertragen lassen.

Zuversicht und Demut

Wie in ihren bisherigen Büchern betont Preißmann, wie ein zufriedenes Leben gelingen kann, aus der Erkenntnis der eigenen Stärken heraus und in Anerkennung der autismusbedingten Grenzen. Ihre Erfahrungen zeigen, wie frau das in ihr liegende Potenzial aus eigener Kraft wecken kann, und zwar nicht nur in Bezug auf berufliche und sonstige Status verschaffende Leistungen, sondern gerade in Bezug auf ein genussvolles Erleben des Alltäglichen. Dabei verschweigt sie jedoch nicht, wie steinig der Weg sein kann, dass eine Portion Glück und Unterstützung von Außen notwendig ist, dass viele ihrer Wünsche und Sehnsüchte unerfüllt bleiben. Diese Haltung der Demut gegenüber ihren eigenen Erfolgen ist bemerkenswert.

Im Nachwort appelliert sie an die Gesellschaft, die Vielfalt und Andersartigkeit von Menschen generell zu würdigen und Autismus nicht länger zu leugnen oder zu bagatellisieren. Die Teilhabe von Menschen mit Autismus sei eine Aufgabe Aller.

Während des Lesens bemerkte ich, dass ich meinte Christine Preißmann vor mir zu sehen und ihre Stimme zu hören. Das mag daran liegen, dass ich einige Vorträge von ihr besucht habe und dass ich mich durch Parallelen in Geschlecht, Alter und Erfahrungen leicht mit ihr identifizieren kann. Oder es ist ein Zeichen dafür, dass Preißmann authentisch aus dem Herzen heraus schreibt, was ihren Schilderungen eine besondere Intensität und Glaubwürdigkeit verleiht.

Immer mehr von dem Gleichen?

Nach kritischen Punkten muss ich suchen, weil ich jede Neuerscheinung von Christine Preißmann freudig erwarte und große Stücke auf sie setze – dadurch bin ich im positiven Sinne voreingenommen. 

Ein Knackpunkt bezieht sich eher auf die Literatur über Autismus im Allgemeinen: Je mehr ich lese, desto öfter wiederholen sich die Dinge. „Immer mehr von dem Gleichen“ sorgt bei mir für einen gewissen Überdruss. Das gilt weniger für die Lebensberichte, denn sie sind einzigartig und stehen unbestreitbar für sich. Wohl aber gilt mein Überdruss dem Aufbau der Bücher, der sich allzu häufig entlang des biografischen Lebensweges entlang hangelt, gängige Themen immer wieder aufgreift. In einem gewissen Maße mag es in der Natur der Sache liegen, dass sich die Aspekte irgendwann erschöpft haben. Trotzdem würde ich mir mehr Mut für einen kreativen Umgang wünschen, wie in Daniela Schreiters Comicreihe Schattenspringer, oder eine Auseinandersetzung in der fiktionalen Form von Erzählungen oder Romanen. Darüber hinaus fände ich es spannend, einzelne Aspekte oder Lebensphasen tiefergehend zu betrachten, was den Raum dafür eröffnet, genauer auf bestimmte Fragen einzugehen. Das schließt ein, über das von Autismus betroffene Subjekt hinaus zu denken, die Themen stärker in ihrer anthropologischen, philosophischen und gesellschaftspolitischen Bedeutung zu betrachten.

Fazit

Mit Autismus leben ist ein empfehlenswertes Buch für Einsteiger und insbesondere für Einsteigerinnen, weil es einen lebensnahen und zuversichtlichen Blick auf Menschen mit hochfunktionalen Autismusformen erlaubt. Die klare Anordnung der Kapitel und die Praxistipps in Spiegelstrichen machen es leicht, zu einem bestimmten Aspekt etwas zu finden, oder Punkte herauszugreifen, um sie auf die eigenen Bedürfnisse und Erfahrungen anzuwenden. Die Tipps eignen sich gut dazu, sich auf bestimmte Herausforderungen und Ereignisse gezielt vorzubereiten.

Bezugspersonen, die mit einem betroffenen Menschen zusammen leben oder mit ihnen arbeiten, finden wertvollen Rat. Wenn sich die Informationen aus diesem Band als „Allgemeinwissen“ verbreiten und beherzigt würden, wäre ein großer Schritt für die Teilhabe von Menschen mit Autismus getan!

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Sabine Kraus

geboren 1977 hat im Alter von 36 Jahren eine Diagnose aus dem autistischen Spektrum erhalten. Sie hat Anglistik und Germanistik (Literaturwissenschaften) studiert und war als Lehrkraft für Englisch in der Erwachsenenbildung tätig. Heute ist sie in einem Autismus-Therapiezentrum beschäftigt, wo sie neben der Verwaltung Aufgaben in der Selbsthilfe, Öffentlichkeitsarbeit und Beratung wahrnimmt. In ihren Beiträgen möchte sie aus ihrer weiblichen Sicht verdeutlichen, dass sich bei vielen Frauen Autismus nicht wie aus dem Lehrbuch zeigt. Im Blog schreibt sie unter einem Pseudonym, weil die zum Teil persönlichen Inhalte unbeschränkt online eingesehen und geteilt werden können. Damit möchte sie ihre Privatsphäre schützen.

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