Wer war Hans Asperger?

Wolfgang Stemmer

Die Diagnose Asperger Autismus

Teil 1: Wie kam es dazu?

Es war die britische Psychiaterin Lorna Wing (1928-2014), die 1981 durch ihren Artikel: „Asperger´s Syndrome: A Clinical Account“ den Stein ins Rollen brachte. International bekannt war die Diagnose des Kinder- und Jugendpsychiaters Leo Kanner (1894-1981), der den frühkindlichen Autismus, den Kanner-Autismus, beschrieb. Da bei Lorna Wings Tochter, Susie, Autismus diagnostiziert wurde, wandte sich die Psychiaterin diesem Arbeitsgebiet zu. In diesem Zusammenhang entdeckte sie um 1970 die Habilitationsarbeit von Hans Asperger (1906-1980) aus dem Jahre 1944 mit dem Thema: „Die «Autistischen Psychopathen» im Kindesalter“. Bald war sie davon überzeugt, dass beide Forscher nur unterschiedliche Gesichtspunkte für dieselbe Störung beschrieben hatten. 

Hans Asperger hatte seine Forschungen nur im deutschsprachigen Raum veröffentlicht. Deshalb dauerte es bis in die 1960er Jahre, bis internationale Psychiater auf Aspergers Arbeiten stießen. Ende der 1970er Jahre, kurz vor seinem Tode, traf er sich mit Lorna Wing in der Cafeteria eines Londoner Hospitals, „um die Frage «bei einer Tasse Tee» zu diskutieren. Eine Einigung kam nicht zustande. So blieb jeder bei seiner Auffassung. 

Durch ihren Artikel von 1981, indem Lorna Wing „das Syndrom nach Asperger benannte, war eigentlich nur eine höfliche Geste gegenüber einem Kollegen, denn Wing hatte selbst viel mehr zu dem Thema veröffentlicht als Asperger“, schreibt Edith Sheffer. Später musste sie jedoch eingestehen, dass sie mit der Bezeichnung Asperger-Syndrom »die Büchse der Pandora geöffnet« hatte, denn auf diese Art hatte sie die Diskussion über eine separate Diagnose eröffnet“. 

1991 veröffentlichte Uta Frith eine englische Übersetzung von Aspergers 1944 erschienener Habilitation. Aber genauso wie Lorna Wing ignorierte sie das Vorwort von Aspergers Arbeit, indem er sich auf die NS-Kinderpsychiatrie beruft und seine Diagnose in den intellektuellen Rahmen des Dritten Reichs eingeordnet hat, nicht in ihre Übersetzung auf.“

„In den neunziger Jahren“, so Sheffer, „setzte sich die Definition des Asperger-Syndroms weltweit durch. Im Jahr 1992 nahm die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Syndrom als eigene Diagnose in ihre Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD)“ und weitere internationale Schriften auf. 2013 ersetzte die American Psychiatric Association die Diagnose Asperger-Autismus durch «Autismus-Spektrum-Störung«. Die Folge davon ist, dass „die Kriterien erweitert wurden, und die Zahl der Diagnosen stieg“. Bedauerlich ist, dass die zuständigen Ethik Kommissionen Aspergers Vergangenheit nicht gründlich unter die Lupe genommen haben, bevor sie der Namensgebung Asperger-Syndrom zustimmten.

„Lorna Wing bedauerte schließlich, wie sie Aspergers Vorstellungen in der englischsprachigen Welt eingeführt und das Schicksal der Diagnose Autismus in eine andere Richtung gelenkt hatte. Kurz vor ihrem Tod erklärte sie im Jahre 2014: 

„Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Heute würde ich alle Etiketten einschließlich des Asperger-Syndroms verwerfen und einen dimensionalen Zugang wählen. Die Etiketten haben keinerlei Aussagekraft, denn es gibt so viele verschiedene Profile“. 

Ich beziehe mich bei den Zitaten auf das Buch von Edith Sheffer: „Aspergers Kinder. Die Geburt des Autismus im »Dritten Reich«, S. 276-280. 

Kindheit und Jugend

Teil 2

Johann „Hans“ Friedrich Karl Asperger kam am 18. Februar 1906 in Hausbrunn bei Wien zur Welt, so kann man es im „Geburts- und Taufbuch“ der Pfarre Altlerchenfeld, Wien, 1906, Fol. 17, Reihe-Zahl 50 nachlesen. Seine Eltern waren einfache Leute. Der Vater Johann Asperger war Buchhalter, seine Mutter Sofie, geb. Messinger, kam aus einer Bauernfamilie. Hans hatte noch zwei Brüder, er war der Älteste. Der mittlere Bruder starb kurz nach der Geburt, der Jüngste, Karl, fiel 1942 in Russland.

Aspergers Tochter Maria Asperger Felder, selbst Kinder- und Jugendpsychiaterin, schrieb eine Auto-Biographie über ihren Vater, in dem sie ihn zu Wort kommen lässt. „Wie bin ich erzogen worden? Mit viel Liebe, ja Selbstentäußerung von meiner Mutter, mit großer Strenge von meinem Vater. Mein Vater hat immer daran gelitten, dass ihm eine höhere Bildung versagt war, und nun musste sein Sohn das erreichen, was er nicht erreichen konnte. (…) Ich habe das Glück gehabt, immer gute Lehrer zu finden, während meines ganzen Lebensweges (…) Von den letzten Volksschuljahren an, aber dann in steigendem Maß, war ich ein wilder Leser. (…) Ja, das Lesen. Dabei habe ich erlebt, aber nicht nur bei mir, aber bei mir besonders, dass es mit dem Lesen etwas Schicksalhaftes an sich hat.“

In der sogenannten Mittelschulzeit schloss sich Hans den „Fahrenden Scholaren“, einer Gruppe des Österreichischen „Bund Neuland“. Seine Tochter zitiert ihn: „Geprägt weiß ich mich vom Geist der Deutschen Jugendbewegung, die eine der edelsten Blüten des deutschen Geistes war. Das Wort, mit dem diese Bewegung begann (1913 auf dem Hohen Meissner in Sachsen): „In Freiheit und Verantwortung das eigene Leben gestalten“ – hat sie in einem hohen Sinn wahr gemacht: das Bewahren des Natürlichen im Menschen und im außermenschlichen Bereich gehörte ebenso zu dieser Lebensform wie der pädagogische Elan“.

Wochenlange Wanderungen, Bergfahrten, das Erleben der Gemeinschaft, noch mehr aber der Natur und der Kunst prägten Hans Asperger zutiefst.“

Der „Bund Neuland“, der 1919 als „Christlich-deutscher Studentenbund“ gegründet wurde, ging aus der katholischen Jugendbewegung hervor. Ein Gründungsanlass war der Kampf gegen die Säkularisierung. Der Bund „wollte Stütze und Ansporn sein in der Erziehung zu praktischem Christentum. Zielbild war der „neue Mensch“, der zutiefst katholische. Die „Wiedergeburt der Kirche in den Seelen“, die „Überhöhung des Traumes vom Jugendreich durch die Wirklichkeit des Gottesreiches“ waren für die jungen Neuländer keine Lippenbekenntnisse, sondern Ausdruck tiefsten Erlebens – Erleuchtung, Erneuerung, Ergriffenheit, Eintreten in ein neues Leben (Karl Thums in der jb-information 9/61).“ Die Zeitschrift des Bundes Neuland war die „Neue Jugend“. Als Autor findet man auch Hans Asperger, der diesem Bund sein Leben lang treu geblieben ist.

Der Bund Neuland erklärte als erster katholischer Verein die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft im Neuland mit dem Nationalsozialismus und löste sich 1938 beim Anschluss Österreichs selbst auf.

In einem Interview der „Wiener Zeitung“ vom 31.03.2014 mit dem Historiker Herwig Czech ist „der Bund Neuland als Teil des rechten deutschnationalen Randes des österreichischen politischen Katholizismus einzuordnen. Da herrschte eine Mischung aus Wandervogel-Ideologie, eine diffuse Aufbruchstimmung, gepaart mit Deutschtümelei und antisemitischen Vorstellungen sowie einer klaren Frontstellung gegenüber Liberalismus, Marxismus, und allen kulturellen Einflüssen der Moderne, die man sich als den Katholizismus zersetzend vorstellte.“

Wir werden gerade diese Haltungen Aspergers in seiner Biographie immer wieder finden. Sie sind eigentlich die Grundlage seines Handelns.

Aspergers erste berufliche Schritte

Teil 3

Hans Asperger bestand am 20. Mai 1925 die Reifeprüfung im Bundesgymnasium in Wien VII mit Auszeichnung. In allen Fächern erhielt er die Note „sehr gut“. Im selben Jahr studierte er Medizin an der Universität Wien. Am 26. März 1931 wurde er zum Doktor der Medizin promoviert. Am 1. Mai 1931 trat er in die Wiener Universitäts-Kinderklinik ein. Deren Leiter war Professor Franz Hamburger.

Seine Tochter Maria Asperger Felder zitiert ihren Vater: „Bei Hamburger, der mich fast vom Rigorosum weg als einen seiner ersten Wiener Schüler 1931 an die Klinik aufnahm, lernte ich Pädiatrie. Er wies mich an die Heilpädagogische Abteilung der Klinik, wodurch sich, wie ich heute (1962) sehe, schicksalhaft erfüllte, was seit den in der „pädagogischen Provinz“ der Deutschen Jugendbewegung verbrachten Jugendjahren in mir angelegt war: das auf biologischen Fundamenten ruhende leidenschaftliche Interesse an Menschen, und dem Streben, menschenführend – und das ist pädagogisch – zu helfen, zu behandeln, in Wegspuren des Lehrers und bald auch in eigenen Wegen. (…) Im April 1932 (nach anderer Quelle im Herbst) wechselte er in die Heilpädagogische Station“.

Es war Erwin Lazar, der diese Abteilung gegründet hat. Als Lazar am 4. April 1932 im Alter von 65 Jahren in Wien starb, wurde der damals 26jährige Asperger , zunächst Mitarbeiter und ab 1934 Leiter der Heilpädagogischen Abteilung. Eine wichtige Rolle spielte die Stationsschwester Viktorine Zak und Erwin Jekelius, der von 1931 bis 1936 auf der Heilpädagogischen Station arbeitete.

Franz Hamburger schrieb über Aspergers Zeit in der Heilpädagogischen Station in einem Habilitations-Gutachten im Dezember 1942. Er hat dort einen Lern- und Spielhort geschaffen: Im Lernhort wurden „intelligente, aber lernschwierige Kinder gefördert; im Spielhort schwierige, oft in beträchtlichem Grad psychopathische Kinder durch die Jahre hindurch betreut, durch persönliche Bindung an die Abteilung gehalten“. Dadurch ist es ihm „in zahlreichen Fällen gelungen, ein Abgleiten oder eine Übernahme der Kinder in Anstaltspflege zu verhindern“.

Von April bis Mai 1934 hospitierte Asperger an der Psychiatrischen Klinik der Universität Leipzig bei Professor Paul Schröder und drei Monate an der psychiatrischen Klinik der Universität Wien bei Professor Otto Pötzl. „Während dieser Reise hat Hans Asperger aber auch andere Dinge erlebt und festgehalten, zum Teil mit Anerkennung, zum Teil mit Staunen.“ So zitiert Aspergers Tochter Maria ihren Vater vom 10.4.1934: „Wie da ein ganzes Volk in eine Richtung geht, fanatisch, mit eingeengtem Gesichtsfeld, gewiss, aber mit einer Begeisterung und Hingabe, in ungeheuerer Zucht und Disziplin, mit einer furchtbaren Schlagkraft. Nurmehr Soldaten, soldatisches Denken – Ethos – germanisches Heidentum“.

Am 10. Juli 1935 heiratete Hans Asperger Hanna Kalmon aus Hiddingsel, heute ein Dorf im Kreis Coesfeld und Ortsteil der Stadt Dülmen. In einem Rundfunkinterview erzählte er 1974: „Beim Bergsteigen habe ich meine Frau gefunden. (…) Sie ist die Frau meines Lebens gewesen und geblieben und die Mutter meiner fünf Kinder. Ich glaube sagen zu können, dass keiner von den beiden den anderen beherrscht, sondern dass sie miteinander, einander helfend, jeder das Seine, das Seine besser könnend als der andere, so leben wir zusammen“.

Aus der Ehe gingen die Kinder Gertrud (1936), Hans (1938), Hedwig (1940), Maria (1946) und Brigitte (1948) geboren, hervor.

Hans Asperger setzte seine Karriere fort: Am 1. Mai 1935 wurde er mit 29 Jahren Leiter der Heilpädagogischen Station der Universitätsklink Wien; am 1. November 1941 bekam er eine Oberarztstelle.

Die Ideologie des Nationalsozialismus

Teil 4

„Wenn das Verbrechen Gesetz wird,
hört es auf, Verbrechen zu sein“.

Albert Camus

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, am 30. Januar 1933 wurde Hitler von Reichspräsident Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Sofort begannen die Nazis Schritt für Schritt ihre verbrecherischen Gesetze auf den Weg zu bringen Die Entmenschlichung der Sprache machte auch vor Hans Asperger nicht halt.

Hier einige wichtige Beispiele: Am …

  1. April 1933 wurde das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamten-tums“ verabschiedet. Es beinhaltet die Entlassung aller jüdischen Beamten und staatlichen Angestellten.
  2. Juli 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet. Es ermöglicht die zwangsweise Sterilisierung bei „angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch depressiven) Irresein, erblicher Fallsucht und schwerem Alkoholismus.
  3. September 1935 das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verabschiedet. § 1: Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten“.
  1. Februar 1936 Erlass des Innenministers, eine „erbbiologische Bestandsaufnahme“ in den Heil- und Pflegeanstalten durchzuführen.

Frühjahr 1937  Die illegale Sterilisation aller farbigen deutschen Kinder wird beschlossen und durchgeführt.

  1. März 1938 Einmarsch deutscher Truppen in Österreich.

                                 Das Reichsrecht wird schrittweise eingeführt.

  1. August 1939 Die 6. Durchführungsverordnung zum Sterilisierungsgesetz beendet weitgehend die vorgesehenen Sterilisierungen.
  1. September 1939 Hitler beginnt den Zweiten Weltkrieg.
  2. September 1939 Hitler leitet die Euthanasie ein.

Januar 1940 Im Zuchthaus Brandenburg wird die Tötung von Geisteskranken durch Gas erprobt.

  1. Januar 1942 Auf der Wannseekonferenz wird die „Endlösung“ der Judenfrage besprochen.
  2. Mai 1945 Der Krieg ist zu Ende.

Die Psychiater werden sagen, dass sie nichts gewusst haben.
Aus dem „Wörterbuch des Unmenschen“ finden sich deshalb auch die bei den Nazis gebräuchlichen menschenverachtenden Wörter. Hier eine kleine Auswahl:

Minderwertiges Leben / Lebens unwertes Leben / Verschrottung durch Arbeit /
Einschläfern / Das Leben solcher unglücklicher Kreaturen / Vom Leiden erlösen /
Der Tod als Erlösung / Unnütze Esser / Ausmerzung / Euthanasie als Dienst an der Menschheit.

In der Biologisierung der Gesellschaft, die nun „Volkskörper“ hieß, war nur der gesunde und nach den Gesetzen gebogene Mensch „wertvoll“, Behinderte und Kranke aber waren, wie die Nazis sagten „Balastexistenzen“, die man „ausrotten“ musste, um den „Volkskörper“ gesund zu halten. Soldaten waren in diesem System „wertvoll“, nach der Rassenpropaganda waren missgebildete oder unheilbar kranke Kinder für den deutschen Volkskörper Gift. Ziel war es deshalb, „den Volkskörper zu reinigen und die krankhaften Erbanlagen allmählich ausmerzen“. Hitlers Begleitarzt Karl Brandt, sagte einer Mutter: „er würde den Säugling nicht so nennen, weil er diesen Namen nicht verdiene. Man sollte besser von einer Sache sprechen“.

Die Entmenschlichung der Sprache machte auch vor Hans Asperger nicht halt.

Edith Sheffer hat recherchiert, dass Asperger im September 1940 einen Vortrag hielt, in dem er klarstellte: „Wo früher eine ganze Anzahl philosophischer, politischer, religiöser Richtungen ihr Erziehungsziel aufstellten und so miteinander konkurrierten, hat heute der Nationalsozialismus sein Erziehungsziel festgelegt und fordert, dass es als einziges Geltung habe“. Allerdings könne dieses „eine Ziel“ nur „auf verschiedenen Wegen erreicht werden“. Hier sah er das Einsatzgebiet für die Sonderpädagogik, deren Zweck es sei, „die Einordnung dieser Kinder in den nationalsozialistischen Staat“ zu erreichen.“

Und an anderer Stelle: „Im Lauf der Zeit wurde Aspergers eugenische Rhetorik harscher. Im September 1940 verglich er in einem Interview mit dem Kleinen Volksblatt Kinder, die er als behindert einstufte, mit Abfall“.

Die Karriere des Hans Asperger

Teil 5

„Ich bin auch niemandem böse. Man kann doch nicht jemandem böse sein, wenn das Böse ohne Namen ist, wenn das Böse einfach dazugehört wie das Leben dort. Und das Böse hat dort dazugehört, das war der Alltag, und das wurde einfach nie angezweifelt.“
Leopoldine Maier in Edith Sheffer.

Obwohl Hans Asperger kein Mitglied der NSDAP war, nahm seine Karriere einen steilen Verlauf. Einerseits wurde er vom Nazi-Apparat als loyal eingestuft, andererseits stellte sich Asperger als Regimegegner dar, ohne dass Belege dafür gefunden wurden.

Mit seinem Mentor Franz Hamburger leitete Hans Asperger von Oktober 1939 bis zum Juli 1940 die „Motorisierte Mütterberatung“. Darunter verstand man, dass motorisierte Ärzte- und Schwesternteams ins Land fuhren, um Kinder bis zum 14. Lebensjahr zu untersuchen. Die  Ergebnisse wurden mit den örtlichen Gesundheits-ämtern koordiniert und sehr bald darauf für das Tötungsprogramm „Am Spiegelgrund“ genutzt. Edith Sheffer hat recherchiert, dass „bei 77 Expeditionen 5626 Kinder“ untersucht wurden. Von diesen waren „Im Spiegelgrund“ „in einer Stichprobe von Krankengeschichten dort untergebrachter Kinder 22 Prozent der getöteten Kinder aus dem Gebiet“, in dem die Motorisierte Mütterberatung tätig war.

Ende 1940 bewarb sich Asperger beim Hauptgesundheitsamt in Wien um die Bestellung als Facharzt für die „heilpädagogischen und kinderpsychiatrischen Belange an den Wiener Hilfsschulen“. Edith Sheffer: „In dieser Funktion sollte er im Auftrag des Referats für Schulkinderfürsorge die Eignung von Kindern für eine Betreuung in einer Hilfs- oder Sonderschule beurteilen.“

Gemeinsam mit Max Gundel, Gesundheitsstadtrat Wien und verantwortlich für die Anstalt „Am Spiegelgrund“; Erwin Jekelius, medizinischer Leiter der Tötungsanstalt „Am Spiegelgrund“ und Franz Hamburger, Leiter der Universitätsklinik, gründete Hans Asperger die „Wiener Heilpädagogische Gesellschaft. Diese Vereinigung hatte nur drei Monate Bestand, dann wurde sie aufgelöst.

Asperger war 1942 „heilpädagogischer Berater“ in einer siebenköpfigen Kommission, die „35 dieser 210 Kinder untersuchten und davon 35 Kinder, neun Mädchen und 26 Jungen, als „bildungs- und entwicklungsunfähig“ einstuften. Alle 35 Kinder wurden Jekelius Am Spiegelgrund überwiesen und ermordet. Als Experte in vielen NS-Gremien empfahl er oft die Unterbringung bestimmter Kinder Am Spiegelgrund.

1943 legte Asperger seine Habilitationsschrift vor, die nicht den üblichen Anforderungen entsprach. Doch sein väterlicher Freund Hamburger, ebnete ihm den Weg zum Doktor-Titel.

Kurz darauf wurde er im Oktober 1943 zum Militärdienst in einer medizinischen Einheit eingezogen. Asperger kam als Arzt nach Kroatien in eine dort stationierte Infantriedivision. Edith Sheffer: „Dort wurde Asperger bis August 1945 Zeuge von Kriegsgräueln, brutalen Attacken der Partisanen, grausamen Vergeltungs-maßnahmen der Wehrmacht und einer ethnischen Säuberung, der mehr als 320.000 Serben zum Opfer fielen.

In späteren Jahren äußerte sich Asperger, nach Edith Sheffer, dazu, wie ihn die Zeit in Jugoslawien bereichert habe, wobei er seine innere Stärke und seinen Heroismus hervorhob. Er beschwor das alte Männlichkeitsideal, ein Mann müsse seinen Wert im Kampf beweisen: „Ich war im Krieg, ich war in Kroatien, im Partisanenkrieg eingesetzt, ich möchte auch keines dieser Erlebnisse missen. Es ist gut, dass ein Mann weiß, wie er sich in Lebensgefahr, wenn die Kugeln pfeifen, benimmt, es ist auch ein Feld der Bewährung“.

Asperger erklärte, persönlich keinerlei Schuld an Grausamkeiten getragen zu haben: „Dass ich nie jemanden niederschießen musste, ist auch ein großes Geschenk des Schicksals“. Während rund um ihn Massenmorde stattfinden, gehörte Asperger persönlich nicht zu den Tätern. Er betrachtete sich sogar als Helden und behauptete, bei Kriegsende zum Retter seiner Einheit geworden zu sein, als sie sich beim Rückzug in unwegsamen Gelände verirrt hatte: „Wobei ich sagen muss, dass ich mit meinen Wandervogelmethoden meine ganze Einheit über die Grenze nach Österreich geführt habe, mit sehr viel Glück natürlich, aber eben geführt habe, weil ich mich nach Bussole (Kompass) und Sternen richten konnte und die anderen nicht. Schließlich waren wir gerettet.“

Auch während seiner Zeit in Jugoslawien blieb Asperger in Kontakt mit der Kinderklinik. … In seiner Abwesenheit wurden im Jahr 1944 drei seiner Artikel veröffentlicht. Darunter zwei, die aus seiner Habilitationsschrift stammten, darunter seine bahnbrechende Abhandlung über die autistische Psychopathie.

Autistische Psychopathie

Teil 6

„Die Psychiatrie bestimmt, was Wahnsinn ist und was nicht. … »Originale«, die in manchen toleranten Milieus in ihrer Andersartigkeit akzeptiert werden, können sterben, ohne dass sie selbst – oder ihre Umwelt – je erfahren würden, dass sie für verrückt gegolten hätten, wären sie in einem anderen Milieu in die Fänge der Psychiatrie geraten.“  Edouard Zarifan 1996.

Und dieses andere Milieu war der Nationalsozialismus und die NS-Psychiatrie. 1944 schrieb Hans Asperger eine Arbeit „Zur Differentialdiagnose des kindlichen Autismus“. Darin stellt er verschiedene Ansätze gegenüber und vergleicht sie mit seiner autistischen Psychopathie. Er schreibt: „die Aspergerschen »Kernfälle« sind höchst intelligente Kinder, mit ungewöhnlicher Spontaneität und Originalität des Denkens, mit besonderen Fähigkeiten der Logik und Abstraktion – freilich manchmal mehr oder weniger denkend, also eigene Wege gehend, unbekümmert um die Wirklichkeit … zu dieser Art gehört auch, dass nicht die Fülle der Welt diese Kinder »angeht«, sondern dass sie auf oft sehr ausgefallene, praktisch wenig brauchbare Spezialinteressen eingeengt erscheinen. … Auch sonst glauben wir genug Anhaltspunkt dafür zu haben, dass es sich da um eine angeborene, mehr noch: um eine ererbte charakterologische Eigenart handelt, also der strengen Definition nach um eine Psychopathie, wenn wir auch zugeben, dass prägende Einflüsse von seiten ähnlich gearteter Eltern von Bedeutung sein können (nicht aber dass diese den Zustand alleine erklären könnten.

Da die Störung »unserer« Kinder bei weitem nicht so schwer ist, … ist es auch begreiflich, dass die soziale Diagnose sehr viel besser ist. So konfliktreich ihr Kinder-, besonders ihr Schuldasein auch immer ist, so gehen sie doch mit starker Spontaneität und Originalität »ihren« Weg, unbeirrt und traumhaft sicher, finden öfters in abseitige, oft in hochspezialisierte, wissenschaftliche Berufe, manchmal mit ans Geniale grenzenden Fähigkeiten; ja es scheint uns, als wäre für gewisse wissenschaftliche oder künstlerische Höchstleistungen ein Schuss »Autismus« geradezu notwendig, …“

An anderer Stelle schreibt Asperger: „Viele von den Vätern unserer autistischen Kinder standen trotz ihrer beträchtlichen Absonderlichkeiten in hoher Stellung – was auch einen Beitrag zur Frage der sozialen Wertigkeit dieses Persönlichkeitstypus leistet“. Finde man, wie in einem anderen Fall, „einmal einen Handwerker darunter, so hat man meist den Eindruck, er habe seinen Beruf verfehlt“.

Wenn Asperger in dieser Arbeit von Kindern schreibt, so meinen seine Diagnosen hauptsächlich männliche Patienten.

Edith Sheffer schreibt: „Asperger definierte die autistische Psychopathie als »Störung der Anpassung an die Umwelt«, die in seinen Augen mit einer »Störung der Instinktfunktionen« einherging, die zu abnormen Symptomen führe, nämlich zu einer »Störung des Verständnisses für die Situation« und zur »Störung der Beziehungen zu anderen Menschen«.

Sheffer fasste den Wandel von Aspergers Diagnosen der autistischen Psychopathie im Laufe der Radikalisierung der NS-Psychiatrie zusammen: „Im Jahr 1937 hatte Asperger noch vor klar abgegrenzten Diagnosen gewarnt. Wenige Monate nach der Annexion Österreichs beschrieb er die Autisten als »wohl charakterisierte Gruppe von Kindern«. Im Jahr 1941 wurde daraus eine »Gruppe abnormer Kinder«. Und 1944 übernahm Asperger die nationalsozialistische Vorstellung von der »Volksgemeinschaft« und erklärte, autistische Kinder seien kein Teil des »größeren Organismus«.

Es gibt keinen Zweifel: Asperger wusste was er mit seinen Definitionen anrichtete, wenn er Kinder in die Anstalt Im Spiegelgrund überwies. Diesen Teil möchte ich mit einem Gedicht von Alois Kaufmann, einem Kind, das den Spiegelgrund überlebte, beschließen:

Die Braven

Sie sind
die Täter,
ohne die Tat begangen zu haben.
Sie sind die Braven
reglementieren die Ausgrenzung
der unnützen Menschen
der Asozialen
der Behinderten.
Der Angepassten
sprechen leise
von nutzlosen Menschen,
handeln vorschriftsmäßig.
Oh wie ich sie verabscheue

diese Braven!

Asperger behandelte bevorzugt Jungen

Teil 7

Sehr ausführlich schreibt Edith Sheffer im 7. Kapitel ihres Buches Aspergers Kinder über die unterschiedliche Behandlung und Interpretation Aspergers über Jungen und Mädchen. Daraus zitiere ich die unterschiedlichen Sichtweisen Aspergers.
„Im Dritten Reich werden von jungen Menschen sehr unterschiedliche Dinge erwartet, je nachdem, welchem Geschlecht sie angehören. Bei Mädchen zählt die Kompetenz im Privatleben, die Fähigkeit, die häuslichen Pflichten zu erfüllen und in den persönlichen Beziehungen zu funktionieren. Bei Jungen kommt es auf die Kompetenz im öffentlichen Leben, auf Disziplin, Leistungsfähigkeit und Eingliederung in die Gruppe an“. Sheffer beschreibt ausführlich die Jungen Fritz und Harro.
„Asperger räumt ein, es sei nicht ganz richtig, dass die Beziehungen des Jungen zu anderen Menschen „nur im negativem Sinn, in Bosheiten und Aggressionen“ bestünden: Bei „seltenen Gelegenheiten“ kann Fritz Gefühle erwidern. … Aber Asperger hält derartige „Zärtlichkeitsanwandlungen“ nicht für echt. Sie wirken auf ihn „gar nicht wie der Ausdruck eines echten Gefühls, eines wirklichen Zugetanseins, sondern ganz abrupt, „wie ein Anfall“. Asperger empfindet die Umarmungen von Fritz sogar als „gar nicht erfreulich“.
„Die Anamnesen der Mädchen stammten in erster Linie aus zweiter Hand, d.h. aus den Berichten der Beamten, die ihre Fälle an die Heilpädagogische Abteilung weitergeleitet hatten. Die Einschätzungen der Mütter beider Mädchen wurden nur oberflächlich behandelt, jene der Väter fanden keinerlei Beachtung. Möglicherweise spielten detaillierte Familiengeschichten keine Rolle oder wurden bei Unterschichtfamilien, die der Norm der bürgerlichen Familie mit zwei Elternteilen nicht entsprachen, einfach vorausgesetzt.“ Asperger glaubt aber, „dass die autistische Psychopathie möglicherweise tatsächlich ein Phänomen der Oberschicht ist“.
„Die Heilpädagogen in Aspergers Abteilung beschreiben Mädchen und Jungen mit fast identischen Begriffen. Die Heilpädagogen vermuten, dass die Probleme des Mädchens aus „praemenstruelle Verstimmungen“ und eine“ ungünstige Beeinflussung der gesamten Reaktionslage des Mädchens durch die Pubertät“ zurückzuführen seien“.
Während Aspergers Klinik bezweifelte, dass Mädchen in der Lage seien, soziale Beziehungen herzustellen, weshalb bei diesen Mädchen eine Isolation empfohlen wurde, glaubten die Heilpädagogen, dass „Gemüt“ von Jungen mit autistischer Psychopathie könne angeregt werden, wenn man sich ihnen mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit und großem Einfühlungsvermögen widmete.
„Asperger deutete die Beziehungsprobleme und die Impulsivität der Jungen als autistische Psychopathie, während seine Abteilung dieselben Probleme bei Mädchen – wie in der europäischen und amerikanischen Psychiatrie üblich – mit weiblicher Hysterie und dem Menstruationszyklus erklärte“.
„Charakteristisch für Jungen waren Asperger zufolge „das Logische, die Fähigkeit zur Abstraktion, das präzise Denken und formulieren, das eigenständige Forschen“, während Mädchen „das Konkrete, das Anschauliche, das Praktische, das saubere eifrige Arbeiten“ besser lägen“.
„Die Mädchen legten ein ähnliches Verhalten an den Tag wie die Jungen, aber Asperger und seine Mitarbeiter deuteten nur die Eigentümlichkeiten der Jungen als Zeichen einer überlegenen Intelligenz“.
Beispielsweise wurde in einer atypischen verbalen Ausdrucksweise in jenen Fällen, in denen Asperger eine günstige Prognose stellte, ein Hinweis auf außerge-wöhnliche Fähigkeiten gesehen. Bei autistischen Jungen beobachtete er „ein besonders schöpferisches Verhältnis zur Sprache.
Hingegen fanden die Heilpädagogen in Aspergers Abteilung die Neologismen des Mädchens weder reizvoll noch intelligent. … Am Spiegelgrund wurden die „Wortneubildungen“ lediglich als „manirierte (übertriebene) und umständliche Art sich auszudrücken“ betrachtet“.
„Asperger wendete das Konzept bei einigen Kindern an, um ihre Menschlichkeit zu zeigen, während er es bei anderen benutzte, um ihnen ihre Menschlichkeit abzusprechen“. Damit meinte er die „Schwachsinnigen mit stereotypen, automatenhaften Gewohnheiten“.
„Asperger ging sogar so weit, zu behaupten, dass ein solches Kind, das in seinen Augen „nicht ein Teil der Welt“ war, zum Lernen unfähig sei. Diese Einschätzung deckte sich mit der in der NS-Psychiatrie etablierten Vorstellung von der „Unerziehbarkeit“ bestimmter Menschen, die „Unerziehbarkeit war eines der Hauptkriterien für die Entscheidung über Leben und Tod im Euthanasieprogramm. Indem die Etiketten der NS-Psychiatrie die Individualität von Kindern auslöschten, machten sie diese Kinder als Menschen unkenntlich. Sie waren ein psychiatrisches Todesurteil und wurden Kindern angeheftet, die in eines der Tötungszentren geschickt wurden, wo sie der physische Tod erwartete“. Soweit Edith Sheffer.
Ich führe diese Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen auf die Erfahrungen von Hans Asperger zurück. Er selbst führt seine soziale Entwicklung u.a. auf den katholischen „Bund Neuland“, in dem ein Zusammensein von Jungen und Mädchen ein Fremdwort war, zurück.
In späteren Jahren äußerte sich Asperger, wie ihn die Zeit in Jugoslawien bereichert habe. Er beschwor drin das alte Männlichkeitsideal, ein Mann müsse seinen Wert im Kampf beweisen. Auch die Errettung seiner Einheit durch Asperger bei Kriegsende ist eine männliche Tat. Asperger hielt sich hauptsächlich in den Männerbünden der NS-Ärzte auf. Und das bestimmte das Denken und Handeln des Mannes Hans Asperger mit.

Was wurde aus den Verbrecherärzten?

Teil 8

„1946 ist es allerdings auch schwer, einen Ordinarius zu finden, der mit der Euthanasie nichts zu tun gehabt hat. Diese Ordinarien haben die nächste Generation von Psychiatern ausgebildet“.  Ernst Klee  1986

Von den in dieser Arbeit erwähnten Ärzten habe ich die Spuren von drei Tätern nach dem Dritten Reich verfolgen können. Es sind dies: Hans Asperger, Franz Hamburger und Erwin Jekelius.

Hans Asperger

Hans Asperger war 26 Jahre alt, als er zunächst Mitarbeiter und ab 1934 Leiter der Heilpädagogischen Abteilung wurde. Ab Mai 1935 übernahm er als Leiter die Heilpädagogische Station der Universitätsklinik Wien. Ende November 1941 bekam er eine Oberarztstelle. Er arbeitete bei der „Motorisierten Mütterberatung“ mit; wurde Facharzt für die „heilpädagogischen und kinderpsychiatrischen Belange an den Wiener Hilfsschulen“; war 1942 „heilpädagogischer Berater in einer siebenköpfigen Kommission, die 35 Kinder im Spiegelgrund ermorden ließ. 1943 erlangte er den Doktor-Titel.

Nach dem Kriege wurde seine Lehrbefugnis in Österreich am 9. Februar 1946 bestätigt, da er weder Mitglied der NSDAP noch einer ihrer Gliederungen gewesen war. Von 1946 bis 1949 war er stellvertretender Vorstand der Wiener Kinderklinik. 1953 wurde ihm der Titel eines außerordentlichen Universitätsprofessors verliehen. Präsident der „Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Heilpädagogik“ war er von 1948 bis zu seinem Tode. Schriftleiter ihres Organs „Heilpädagogik“ war Asperger vom 1. bis zum 23. Jahrgang.

Asperger ist am 28. Februar 1977 emeritiert worden. Am 21. Oktober 1980 ist er in Wien im Alter von 74 Jahren gestorben. (Wolfgang Brezinka: Heilpädagogik an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. Ihre Geschichte von 1911 – 1985. In: Zeitschrift für Pädagogik 43 (1997) 3, S. 395-420)

Franz Hamburger

Franz Hamburger war Präsident des Wissenschaftlichen Senats der Akademie für ärztliche Fortbildung in Wien. Er forderte die Sterilisierung von „schwachsinnigen“ und diabetischen Kindern. Hamburger wurde 1944 emeritiert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er am 2. Juni 1945 von seinen Funktionen entbunden und trat 1947 in den Ruhestand. Hamburger sah nie einen Gerichtssaal von innen und hatte sich nie zu verantworten.

Hamburgers 1951 erschienener Ratgeber Über den Umgang mit Kindern wurde als Beispiel für die Befürwortung physischer und psychischer Gewalt in der Kindererziehung nach 1945 angeführt. (wikipedia: Franz Hamburger (Mediziner).

Erwin Jekelius

Erwin Jekelius war vom Juli 1940 bis 1941 an der Wiener städtischen Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund als ärztlicher Direktor tätig. Dort wurden in der Kinderfachabteilung im Rahmen der Kinder-Euthanasie mindestens 789 behinderte und/oder verhaltensauffällige Kinder umgebracht.

Vom Oktober 1940 an bearbeitete Jekelius im Rahmen der Aktion T4 als T4-Gutachter Meldebögen von Patienten und entschied nach Aktenlage, welche Patienten in den NS-Tötungsanstalten als „Euthanasiefall“ vergast werden sollten.

Jekelius wurde 1945 auf der Flucht von Soldaten der Roten Armee verhaftet und 1948 in Moskau wegen der Beteiligung an Euthanasieverbrechen zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er starb im Mai 1952 in einem sowjetischen Arbeitslager an Blasenkrebs. (wikipedia: Ernst Jekelius) 

Was noch zu sagen wäre

Teil 9

Nach den vorliegenden acht Teilen dieser Arbeit kann man auf den Gedanken kommen, ob es nicht auch Widerstand wenigstens einiger NS-Psychiater gegen Sterilisation und Euthanasie gegeben habe? Ja, es gab ihn. Der amerikanische Psychologe Robert Jay Lifton hat in seinem in Deutschland 1993 veröffentlichten Buch Ärzte im Dritten Reich einige Beispiele beschrieben. 

Der Historiker Herwig Czech sagte in einem Interview mit der Wiener Zeitung u.a. vom 31.03.2014: „In einem Fall können wir ganz konkret nachvollziehen, dass er ein Kind mit diagnostizierter Postenzephalitis (d.h. das Gehirn erlitt durch Entzündung Schädigungen) auf den Spiegelgrund schickte, das dort umkam. Und offenbar wusste die Mutter Bescheid, was da passieren sollte. Es gab da scheinbar ein stilles Einverständnis, das Kind diskret zu beseitigen“. 

Hans Asperger jedoch hat kaum über seine Rolle im Dritten Reich gesprochen, er, der Katholik, glaubte, das mit sich selbst ausmachen zu müssen. Der Medizin-historiker Richard Toellner (1930-2019) verwendet für dieses Verhalten den Begriff des „unbußfertigen Schweigens“. Damit ist gemeint, wer schweigt, tut keine Buße. Nur wer öffentlich zu dem steht, was er gemacht hat, kann Buße tun. Edith Sheffer: „Für Asperger war letzten Endes also nicht entscheidend, ob man etwas Böses tat, sondern ob man wusste, dass es böse war. Es ging um einen inneren Zustand, eine Buße gegenüber der Außenwelt war nicht erforderlich.“ 

Ganz im Gegenteil. Asperger hat versucht, sich als Opfer darzustellen und so an seiner Legende zu arbeiten. Merkwürdiger Weise fallen die Einschätzungen über Hans Asperger eher lauwarm aus. In der Süddeutschen Zeitung vom 18.11.2018 fasste Astrid Viciano zusammen: „Asperger war weder ein überzeugter Gegner noch ein fanatischer Anhänger der Nazis. Er war ein gläubiger Katholik und trat der NSDAP nie bei. Sein Verhalten aber sei exemplarisch für das Abdriften etlicher Menschen in die Mittäterschaft“. 

Edith Sheffer resümiert: „Das Ausmaß seiner Handlungen mag gering erscheinen, doch bei der Auseinandersetzung mit einem systematischen Tötungsapparat ist die Frage angebracht, ob die genaue Zahl der Menschen , deren Tod das direkte Resultat seiner Entscheidungen war, überhaupt eine Rolle spielen sollte: Es ist unmöglich, die Augen vor der Tatsache zu verschließen, dass sich Hans Asperger wissentlich an einem System von Massentötungen beteiligte und mit dem Schrecken vertraut war, den unzählige Kinder durchlebten“. 

Sowohl im Islam (Koran) als auch in der jüdischen Religion (Talmud) heißt es: „Wenn einer einen Menschen tötet, so ist es, als ob er eine ganze Welt getötet hat. Und wenn einer einen Menschen rettet, so ist es, als ob er eine ganze Welt gerettet hat“.

Und Hans Asperger …?

Quellen: 
Martin Broszat / Norbert Frei (Hg.): Das Dritte Reich im Überblick. Chronik, Ereignisse, Zusammenhänge. München 2007.
Ulf Schmidt: Hitlers Arzt Karl Brandt. Medizin und Macht im Dritten Reich. Berlin 2009, S. 183
Edith Sheffer: Aspergers Kinder. Die Geburt des Autismus im „Dritten Reich“. Frankfurt/Main 2018, S. 100 und 107. 
Maria Asperger Felder: „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“. Hans Asperger (1906-1980): Leben und Werk, S. 99 f in: 
Rolf Castell (Hg.): Hundert Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie. Biographien und Autobiographien, Göttingen 2008. 
Wolfgang Brezinka: Heilpädagogik an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. Ihre Geschichte von 1911-1985. Zeitschrift für Pädagogik 43 (1997) 3, S. 395-420 Biographisches Archiv der Psychiatrie: Hans Asperger, S. 1 wikipedia: Hans Asperger, S. 5 Maria Asperger Felder: „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“. 
Hans Asperger (1906-1980): Leben und Werk, S. 99 f in: Rolf Castell (Hg.): 
Hundert Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie. Biographien und Autobiographien, Göttingen 2008. 
Rudolf Kneip: Jugend der Weimarer Zeit. Handbuch der Jugendverbände 1919-1938, Frankfurt / Main 1974, S. 265 f Wiener-Zeitung vom 31.3.2014, Interview mit Herwig Czech: Hans Asperger – „Er war Teil des Apparats“, S. 1
 

Wolfgang Stemmer

ist 1951 in Augsburg geboren. Lehre zum Maschinenschlosser. Studium der Sozialarbeit in Hagen. Angestellt als Dipl. Sozialarbeiter im Jugendamt in verschiedenen Bereichen, u.a. mit seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen und als Vormund für Minderjährige. Zuletzt drei Jahre beschäftigt in einer Autismus-Therapie-Ambulanz. Jahrelang auf Landes- und Bundesebene in verschiedenen Funktionen im Deutschen Diabetiker Bund ehrenamtlich tätig. Seit 2016 in Rente. Aktiv in einer Autismus Selbsthilfegruppe. Verschiedene Veröffentlichungen.

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