Zahlen sind logisch, Lehrer nicht.

Bettina Jürgens

Das Lernen fiel mir leicht.

Leichter als so manch anderem in der 1. Klasse.
Buchstaben ergeben Worte, aus Worte werden Sätze, Sätze werden zu Absätzen, Absätze ein Kapitel und die Kapitel werden zu einem großen Ganzen. Noch vor den ersten Herbstferien konnte ich fließend lesen. Ähnlich verhielt es sich mit der Mathematik. Mathematik ist logisch und erklärt sich von allein, viel nachdenken ist hier nicht gefordert, zumindest nicht bei der einfachen Schulmathematik. Unsere Welt, das Universum, die Menschen, die Tiere,  jede Farbe – einfach alles ist Mathematik. Es gibt warme, kalte, große, kleine, positive, negative und unendlich viele bunte Zahlen.

Ich mag Wörter mit 9 Buchstaben

Das Wort kann durch 3 Buchstaben geteilt werden, sodass 3 Abschnitte im Wort entstehen, ich kann diese wiederum mit 3 multiplizieren und es sind 9.
Die 3 ist eine 9: grün, rund und positiv…
Jetzt könnte man meinen, ich hätte es leicht gehabt in der Schule – wäre da so durchgeflutscht durch das Schulsystem. Die kognitiven Voraussetzungen für ein „Durchflutschen“ hatte ich sicherlich mitgebracht…. An meinen Intellekt sollte ich auch nicht scheitern, obwohl ich diesen im Laufe meines Lebens oft genug in Frage gestellt habe. 

Die Schule ist kein Ort der Ruhe und des Lernens. Schule ist eine vorgepresste Schablone von neurotypischen Verhaltensweisen, die nicht alle zu begreifen sind.

Mit mir saßen noch 27 weitere Kinder in der Klasse, denen es aber aus irgendeinem Grund nicht so schwerfiel die Schablonenform anzunehmen. Ich hatte also 27 Vergleichsobjekte. Theoretisch musste ich das Verhalten meiner Mitschüler nur abgucken und kopieren, sozusagen Schablonen auswendig lernen. 

Das funktioniert aber leider nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Heute weiß ich, dass es an meinem Unverständnis für das fremde Verhalten lag. Denn neurotypisches Verhalten kann ich nur lernen, wenn ich es verstehe und nachvollziehen kann. Deswegen bin ich aber noch lange kein Neurotyp. Genauso ist es doch umgekehrt. Autistisches Verhalten kann nur jemand lernen, der es versteht und nachvollziehen kann. Aber deswegen ist derjenige noch lange kein Autist.

Die Schulmedizin nennt es Anpassungsschwierigkeiten.

Die Verhaltensweisen meiner Mitmenschen zu verstehen bedeutet logische Schlussfolgerungen treffen zu können. Aber leider sind Verhaltensweisen nicht immer logisch. Eher irrational und somit schwer bis gar nicht zu lernen. Adjektive, die in Bezug auf mein damaliges Verhalten in der Schule genannt worden sind: stur, bockig, respektlos, eigensinnig, frech und maßlos.
Ich denke, diese Adjektive sind allen Eltern von autistischen Kindern ein Begriff. Aber warum ist es so? Warum können wir Autisten uns nicht mal am Riemen reißen, die Faust in der Tasche machen und einfach mal die Dinge so hinnehmen wie sie sind? Wir könnten es, wenn wir verstehen, begreifen und logische Schlussfolgerung erkennen.
Ich wollte mich also am Riemen reißen, damals in der Grundschule. Denn am Riemen reißen bedeutet doch: Ansehen, Akzeptanz, Intelligenz, keine Strafarbeiten, kein Nachsitzen und Lob von der Lehrerin.

Ich lernte schnell durch Abschauen. Vorgegebenes darf nicht hinterfragt werden. Hinterfragen nervt die Lehrerin und stört den Unterricht. Unterricht stören ist respektlos und bedeutet Strafarbeit. Also fragte ich nichts mehr, damit war ich auf der sicheren Seite. Jetzt musste ich nur noch lernen, wie ich mich zu verhalten habe, um auch Lob und Anerkennung zu erhalten. Und hier bin ich gescheitert. Denn Verhalten zu kopieren funktioniert nicht, wenn ich gegen meine eigene Moral handeln müsste und ein herrschendes Ungleichgewicht aufrechterhalten würde. 

Mein erster Taschendienst

Innerhalb der Klasse wurden Dienste eingeteilt, u.a. gab es den Tafel-, Klassenfege-, Pausenhof- und den Taschendienst. Aus mir unerklärlichen Gründen wurden die Dienste ohne jegliche Hinterfragung von meinen Mitschülern geleistet. Ich versuchte es ihnen nachzumachen. Bei meinem ersten Taschendienst stand ich morgens pünktlich vor Schulbeginn am Lehrerzimmer, um dort die Tasche meiner Lehrerin in Empfang zu nehmen und diese zum Klassenzimmer zu tragen. Als mir die Tasche in die Hand gedrückt wurde, konnte ich mich nicht mehr am Riemen reißen. Ich hinterfragte: „Warum muss ich ihre Tasche tragen?“, die Antwort: „Weil du mit dem Taschendienst dran bist“. Gut, das war logisch, aber der Dienst an sich war nicht logisch und absolut ungerecht. Und so kam es, dass ich zu meiner Lehrerin sagte: „Ich trage ihre Tasche, wenn Sie dafür meinen Schulranzen tragen. Beide Taschen zu tragen finde ich nicht gerecht, zumal Sie viel größer sind und auch mehr Kraft haben.“

Bettina Jürgens

Sie ist selbst Autistin und hat ihre Ausbildung als Polizistin absolviert. Darüber berichtet sie in einem unserer Artikel. Heute ist sie Landesbeamtin und zudem auch Mutter betroffener Kinder. Darüber hinaus berät sie als Mitarbeiterin des Teams „Autisten Informieren“ Personen, die selbst im Spektrum sind, als auch Eltern betroffener Kinder, sowie Erzieher und Pädagogen.

2 Antworten

  1. Hallo , ich bin Mutter eines Kindes mit damals fFrühkindlichen Autismus. Der auch eine ADHS symptomatik hat. Die bisher keiner diagnostizieren und sehen wollte. Ich bin mittlerweile im zweiten Autismus Therapiezentrum angelangt. Wo ich aber keine Hilfe erfahre. Ich hab manchmal das Gefühl als wenn die es überhaupt nicht verstehen wo ich meinen Unterstützungsbedarf liegt. Der Unterstützungsbedarf bezüglich meines Sohnes. Der mittlerweile krank geworden ist wahrscheinlich aufgrund seiner Reizüberflutung, Er kann eine gewisse Zeit sich ist sehr stark anpassen sag ich mal so. Es ist eine Kompensationsstrategy ihn aber sehr stark krank gemacht hat. Er hat von klein auf eine starke Essstörung. Er kompensiert seit der Corona Pandemie noch stärker sein Essen mit seinen Gefühlen. Trotz täglichen Sport und Bewegung wird er immer dicker. Bei Ärzten finde ich keine Anerkennung und kein Verständnis bezüglich seiner Situation. Mein Sohn hat auch noch muskuläre Hypotonie seit Geburt an das sorgt noch dafür dass im schulischen Bereich und in anderen Bereichen sehr viele Probleme hat weil er seinen Körper gar nicht richtig gerade halten kann. Er wird immer noch gezwungen zu schreiben seit lassen nach fünf Jahren Schule die bisher nicht viel gebracht hat. Kämpfe ich um die Anerkennung dass er an einem Laptop schreiben können vielleicht sogar mit Spracherkennung weil die vom kognitiven her würde es schaffen.Wir haben zu viele Baustellen. Für mich ist ein oft das schlimme dass ich bei Institutionen die sich eigentlich damit auseinandersetzen sollten oder vielleicht wissen sollten um was es geht merke das ich da einen Menschen gerade die scheinbar das nicht verstehen oder nie verstanden haben. Ich hoffe dass ich bei euch an einer richtigen und guten Adresse. Liebe Grüße

    1. Hallo Frau Spannknebel, das ist leider sehr oft der Fall, dass man die Doppeldiagnosen nicht sehen will. Viele Ärzte oder Therapeuten haben sich entweder mit der einen oder der anderen Diagnose auseinandergesetzt – und das war es dann auch schon. Dabei ist die Doppeldiagnose sogar sehr häufig, deshalb richten wir unseren nächsten Kongress im Mai 2023 auch zu diesem Thema aus. Denn wenn beides vorhanden ist, muss man auch beides im Blick halten. Was Sie schreiben, klingt schon insgesamt so, als habe man vor, ihren Sohn um jeden Preis passend für das System zu machen. Haben Sie mal Kontakt zu der oder den Autismusbeauftragten ihrer Stadt oder ihres Bezirks aufgenommen? Oft hilft es bei Schulen, wenn sie jemanden an ihrer Seite haben, die für das Kind sprechen. Mütter werden da vielfach nicht ernst genommen. Im Gegenteil, als Übermütter abgewertet. Je nach Wohnort kann vielleicht auch der EuTB helfen.

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