Über Autismus
Die Medizin beschreibt Autismus als eine angeborene, tiefgreifende Entwicklungsstörung. Noch vor einigen Jahren unterteilte man Autismus in verschiedene Untergruppierungen ein. Asperger Autismus (F84.5), Frühkindlicher Autismus (F84.0), Atypischer Autismus (F84.1) als Begriffe existieren durchaus noch, aber die heute gültige Bezeichnung nach der DSM 5 lautet Autismus-Spektrum-Störung.
In der Klinik beobachtet man zwischen allen Unterkategorien fließende Übergänge. Auch zwischen typischer und untypischer Entwicklung verlaufen die Grenzen fließend. In den meisten Fällen kann man Verwandte mit ähnlichem, wenn auch öfter geringeren autistischen Persönlichkeitsmerkmalen finden. Das macht gemeinsame genetische Prägungen für autistische Persönlichkeitsmerkmale sehr wahrscheinlich.
In manchen Fällen sind weitere neuronale Auffälligkeiten mit dem Autismus vergesellschaftet. Z. B. ADHS, Lernstörungen, Störungen der Motorik, Tic-Störungen, Tourette-Syndrom, Intelligenzminderung oder Hochbegabung.
Die DSM 5 legt zudem die Diagnosekriterien fest, die sich an entsprechende Symptome orientieren.
Die Diagnose
Autisten zeigen Merkmale in ihrer Entwicklung und in ihrem Verhalten, die deutlich von den neurotypischen Menschen abweichen.
Diese Merkmale betreffen die Art und Weise wie Autisten
- sozialen Umgang mit ihren Mitmenschen haben.
- wie sie mit ihren Mitmenschen kommunizieren.
- und in Verhalten, die wiederholenden oder stereotypen Charakter haben.
Die einzelnen Kriterien werden in zwei Kategorien eingeteilt. Kategorie A beinhaltet 3 Kriterien verschiedener Qualität. Aus allen Kriterien muss mind. eine Verhaltensweise zutreffen.
Kategorie B beinhaltet 4 Kriterien verschiedener Qualität. Davon müssen mind. 3 dieser angegebenen Verhaltensweisen zutreffen.
Die Symptome bestehen anhaltend seit der Kindheit, können jedoch je nach Entwicklung teilweise durch gute Kompensationsstrategien phasenweise und situativ versteckt werden. Sie zeigen sich allerdings bei Belastung und Erschöpfung erneut und verstärkt.
Kategorie A
Andauernde Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion, die sich über mehrere Lebensbereiche erstrecken und sich durch folgende Merkmale und Verhalten zeigen:
1. Erkennbare Defizite in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit
ungewöhnlich anmutende zwischenmenschliche Verhaltensmuster, fehlende Zwanglosigkeit im Kontakt, kein Small Talk möglich oder seltsam anmutend, wie erlernt oder abgelesen, auffällig ungewöhnlicher Blickkontakt – fehlend oder flüchtig oder aus eine Stelle starrend, seltsam monotoner Gesichtsausdruck, wirkt desinteressiert ohne emotionales Mitschwingen,
2. Defizite in der nonverbalen Kommunikation und sozialen Interaktion
monotone Stimmlage oder gestelzter (elaborierter) Sprachstil, keine sichere Erkennung von Ironie oder Sarkasmus, wortwörtliche Auslegung von Inhalten
3. Erkennbare Schwierigkeiten im Aufnehmen und Erhalten von Freundschaften und Beziehungen in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand des Betroffenen
Schwierigkeiten oder Unvermögen eine Unterhaltung zu beginnen, inadäquates Ansprechen von Personen – mit Sachinformationen überhäufen, ohne dass ein Kontext besteht, aus einer Unterhaltung, die nicht mehr von Interesse ist aussteigen. Wenig Teilnahme an den Aktivitäten für die selbst kein Interesse besteht,
Kategorie B
Restriktive und sich wiederholende Verhaltensmuster, Aktivitäten und Festhalten an Routinen
1. Stereotype Bewegungen, und Benutzen von Objekten, repetitives Sprechen, Aufzählen, Monologisieren
Wedeln mit den Händen, sich im Kreis drehen, drehen und knoten an der Kleidung oder Benutzen von Gegenständen wie drehen eines Rades an einem Spielzeugauto, etc.
2. Exzessives und starres Festhalten an Routinen und Tagesabläufen, hoher Widerstand gegenüber Veränderungen
Immer das Gleiche essen, immer um dieselbe Zeit aufstehen, jeden Abend dieselben Abläufe vor dem Schlafengehen, etc.
3. Fixation auf ein eigenes begrenztes Interessensgebiet, obsessive Beschäftigung mit einem Spezialinteresse oder einem Lieblingsthema
Großes, erstaunliches Wissen an Daten, Fakten zu einem bestimmten Thema, Ansammlung von Bildern, Gegenständen zu einem bestimmten Thema, hohe Mitteilungsbereitschaft, wenn es um Informationen zu einem bestimmten Thema geht, etc.
4. Hyper- oder hyposensorische Wahrnehmung für einzelne oder mehrere sensorische Reize oder Input aus der Umgebung
Schlechte oder übermäßige Wahrnehmung auf thermische Veränderungen, taktile Überreizung – kann bestimmte Kleidung auf der Haut nicht ertragen, hört das Surren der Glühbirnen, erkennt Personen am Geruch, bevor er sie sieht oder hört, kann kleinste Fehler oder Unebenheiten erkennen, sieht Dinge, die keinem auffallen, etc.
Autismus als Neurodivergenz
Da Autismus sehr unterschiedlich in Erscheinung treten kann, sowohl in der Ausprägung, den persönlichen Fähigkeiten und Defiziten, die mit dem autistischen Denken in Verbindung gebracht werden können, ist die Bezeichnung Autismus-Spektrum durchaus angebracht. Das Wort „Störung“ dahinter, ist allerdings eine angehängte Bezeichnung, die unmittelbar eine negative Wertung bedeutet. Das ist für einige Autisten, eine bereits in der Diagnosebeschreibung beinhaltende Diskriminierung. Der Verzicht auf diesen Begriff ist keinesfalls blanker Euphemismus. Der Verzicht ist Voraussetzung für eine neutrale Auseinandersetzung mit Autismus und einem sachlichen Verständnis, was Autismus ist.
Autismus kann man Beschreiben als neurologische Variante des Gehirns. Es bezeichnet die Art und Weise, wie ein Gehirn denkt, wie es Wahrnimmt und das wahrgenommene verarbeitet. In der Folge, wie sich mit dieser anderen Wahrnehmung, die Person entwickelt, sich ihre Sicht auf die Welt und auf sich selbst, in dieser Welt prägt. Einige Autisten verwenden für eine schnelle Erklärung die Beschreibung, Autismus sei ein anderes Betriebssystem, nicht besser und nicht schlechter, als das neurotypische System. In einer Welt, die aus 99 % neurotypischer Menschen besteht, ist das allerdings für beide Seiten oft problematisch.
Mythen und Klischees
Möglicherweise ist es zum Verständnis hilfreich, wenn anstatt zu erklären was Autismus ist, man den umgekehrten Weg wählt. Nämlich einmal zu nennen, was Autismus nicht ist.
Die Klischees und Mythen darüber sind zahlreich. Und einige der Klassiker sind als Allgemeinwissen sehr weit verbreitet. Selbst absolut Unwissende antworten bei der Frage, was Autismus sei oft: „Autisten leben in ihrer eigenen Welt.“
Das wäre schön, wenn es so wäre. Aber leider leben Autisten eben in der neurotypischen Welt. Diese ist für den Autisten oft so überfrachtet mit sensorischen und emotionalen Inputs, dass ein innerer Rückzug nötig wird, um sein System vor Überlastung zu bewahren.
Diese Aussage beruht also auf die Wahrnehmung neurotypischer Personen, die das augenscheinlich „In-sich-gekehrte“ Verhalten versuchen zu verstehen. Richtig ist, Autisten nehmen viel mehr wahr als neurotypische Gehirne – und viel mehr als sie vertragen können und ihnen lieb ist.
Ebenso falsch ist der Glaube, Autisten seien empathielos. Man tut gut daran, zu unterscheiden, zwischen kognitiver und erlernter und affektiver und gefühlter Empathie gibt. Und in der Tat liegen die Autisten im Bereich der affektiven Empathie sogar ganz weit vorne. Sie fühlen viel mehr, was nicht immer vorteilhaft ist, sondern extrem belastend sein kann.
Autismus ist keine Krankheit, Autismus ist nicht ansteckend, es ist keine Epidemie. Autismus bedeutet nicht Hochbegabung, aber manche sind es. Es bedeutet auch nicht gleichzeitig eine Lernbehinderung zu haben, aber auch das kommt gemeinsam mit Autismus vor.
Autisten sind nicht unfähig zu kommunizieren, nur nutzen einige Autisten nicht die üblichen kommunikativen Werkzeuge, wie sie die Mehrheit der neurotypischen Personen verwendet. Autismus besteht nicht nur aus Defiziten, sondern aus ebenso vielen Fähigkeiten. Autisten sind nicht alle gleich, sondern so verschieden, wie alle Menschen verschieden sind. Darum sind auch Autisten nicht immer derselben Meinung. Doch verstehen sie sich untereinander oft intuitiv und kommunizieren mit Leichtigkeit, denn schließlich sprechen sie dieselbe Sprache.