Autismus bei Frauen

Sabine Kraus

Frau werden mit Autismus

Zum Glück sind immer mehr weibliche Stimmen zu hören, wenn es um Autismus geht: Frauen engagieren sich in der Selbsthilfe und gehen mit dem Thema an die Öffentlichkeit, wie nicht zuletzt diese Internetseite zeigt. Trotzdem findet Autismus bei Frauen weniger Aufmerksamkeit, sei es in der überwiegend Männer dominierten Fachwelt oder im beruflichen Bereich.
Wenn ich auf die Unterschiede bei betroffenen Männern und Frauen eingehe, verallgemeinere ich stark über individuelle Unterschiede hinweg, außerdem lasse ich die Menschen außer Acht, deren geschlechtliche Identität jenseits des Dualismus liegt. Ich bitte dafür um Nachsicht bei den Leserinnen und Lesern, die sich deshalb in den folgenden Schilderungen nicht wiederfinden.

Autismus bei Frauen – eine Ausnahme?

Hartnäckig hält sich die Sicht, dass von Autismus in erster Linie Jungen und Männer betroffen seien, es ist die Rede von einem Verhältnis von 1 zu 8. Ein Grund für die geringere Anzahl an Frauen ist, dass sich das autistische Spektrum gerade bei Frauen mit hochfunktionalen Autismusformen nicht nach dem Lehrbuch zeigt, wodurch sie einfach durch das Raster fallen. Bei der Diagnose von Autismus können die Fachleute nur von dem ausgehen, was sie an der Oberfläche des Verhaltens und aus den Aussagen der Patientin und ihrer Bezugspersonen beobachten können, schließlich lässt sich Psyche eines Menschen nicht wie bei einem Röntgenbild sichtbar machen, ebenso wenig ist es möglich, die Gefühle und Sinneswahrnehmungen eines Gegenübers unmittelbar zu erfassen. Frauen sind mehr als Männer in der Lage, die Beeinträchtigungen im sozialen Bereich zu kompensieren – oftmals auf Kosten ihrer seelischen Gesundheit. 

Mädchen mit Autismus

So bleiben viele betroffene Mädchen und Frauen bei Bezugspersonen, Erzieher/innen, Lehrkräften und in medizinischer Behandlung „unter dem Radar“. Vielleicht fällt auf, dass im Verhalten eines Kindes irgendetwas anders ist, es bleibt aber kaum fassbar und begreifbar. Das Mädchen bleibt Randfigur in der Klassengemeinschaft und anderen Gruppen Gleichaltriger. Es zeigt kaum Interesse an typischen Dingen wie Puppen, Kleidung und Schmuck, Rollenspielen, sondern wendet sich mitunter abseitigen Eigeninteressen zu, denen es alleine mit großer Leidenschaft folgt. Es bewegt sich ungeschickt, scheut Spiel und Sport besonders in Gruppen oder unter fremdbestimmter Anleitung. Mädchen sind dabei häufig zurückgezogen und bereiten wenig Schwierigkeiten, was es leichter macht sie mitschwimmen zu lassen im System als betroffene Jungen, die eher dazu neigen ihren Autismus nach außen auszuagieren durch lautstarkes oder aggressives Verhalten.

Der schwere Weg zur Frau

In der Pubertät werden sich Betroffene ihrer Andersartigkeit schmerzlich bewusst. Das liegt einerseits daran, dass sich die Fähigkeit zur Selbstreflexion in der Jugend entwickelt, also die Fähigkeit, sich selbst in Bezug zu seinem sozialen Umfeld wahrzunehmen. Andererseits neigen gerade Jugendgruppen in ihrem Bedürfnis nach Konformität und Orientierung dazu, Andersartige auszugrenzen bis hin zum Mobbing. Eine autistische junge Frau mag erfahren, dass sie bei den altersentsprechenden Themen wie Aussehen, Beziehungen und Sexualität nicht mitreden kann, dass ihr der Kontakt zum anderen Geschlecht sogar Angst macht. Sie erlebt, wie Gleichaltrige an ihr vorbeiziehen, dass sie keine Freundinnen und kaum Anschluss an Gemeinschaften findet. Schulpausen, Feten, Klassenfahrten und ähnliche Gruppenaktivitäten können so zum Alptraum werden. Themen, die sie bewegen sind für andere Jugendliche völlig unbedeutend, sie sorgen allenfalls für Kopfschütteln oder Spott. Weiterhin neigen die jungen Frauen dazu, diese frustrierenden und demütigenden Erfahrungen nach innen zu kehren, was ihrem Selbstwertgefühl tiefen Schaden zufügt.
Für junge Männer gibt es dagegen mehr Möglichkeiten, ihre Persönlichkeit trotz der autismusbedingten Besonderheiten zu entwickeln. Häufig zeigen sie großes Interesse und Begabungen im naturwissenschaftlich-technischen Bereich, was gesellschaftlich hoch anerkannt ist und auch einen Weg in den Beruf weisen kann. Über eine Leidenschaft für Computer, Programmieren, Internet, Gaming können sie Anschluss an Gleichaltrige finden. Schweigsam zu sein und insgesamt weniger Wert auf sozialen Austausch und das äußere Erscheinungsbild zu legen, wird beim männlichen Geschlecht viel stärker akzeptiert. 

Von Frauen wird dagegen erwartet, dass die emotionale Zuwendung zu anderen Menschen im Vordergrund steht, dass sie Austausch und Nähe suchen, dass sie Babys und kleine Kinder süß finden und mit Jungs flirten, dass ein erster Wunsch nach Familie aufkommt. Es ist wahrscheinlich, dass eine Frau im jungen Erwachsenenalter, die sich von all dem furchtsam abwendet, implizit oder explizit auf Ablehnung stößt, selbst vonseiten ihrer nächsten Angehörigen. Dies kann die Bildung einer gefestigten körperlichen und seelischen Identität sehr schwer machen.

Schauspielerinnen ihrer selbst

Die Pubertät ist ein Punkt, an dem viele Frauen den Weg der Anpassung einschlagen, unter Verleugnung ihres Selbst. Der australische Autismusforscher Tony Attwood legt berührend dar, wie manche Frauen zu Schauspielerinnen ihrer selbst werden, indem sie neurotypisches Verhalten in allen Facetten kopieren, nur um dazuzugehören. Ziehen sie dies jahrelang durch, verlieren sie dabei jedes Gefühl für sich selbst, außerdem ist es extrem kräftezehrend. Eine Autismus-Spektrum-Störung vollständig zu unterdrücken, dürfte unmöglich sein, gerade in den feinen Abweichungen in Gestik, Mimik und Sprache sollte sie erkennbar bleiben. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit bei einer starken, verinnerlichten Kompensation überhaupt einen Autismus in Betracht zu ziehen oder eine Diagnose zu bekommen, deutlich geringer.

Erwachsenwerden als Lebenskrise

Wie die selbst betroffene Sachbuchautorin und Ärztin Christine Preißmann ausführt, haben junge Frauen regelrecht Angst vor dem Erwachsenwerden, weil damit die gesellschaftlichen Anforderungen an das weibliche Geschlecht über ihnen zusammenbrechen. Hinzu kommen die Herausforderungen des Übergangs von der Schule in Ausbildung, Studium und Beruf und die Ablösung vom Elternhaus. Im Körper manifestiert sich jedoch unaufhaltsam die Reifung in körperlichen Veränderungen, wenn sich Brüste und Körperform entwickeln, die Menstruation einsetzt. So kann das junge Erwachsenenalter für betroffene Frauen zu einer Krisenzeit werden, in der Komorbiditäten wie Depressionen, Angst- und Zwangserkrankungen oder Essstörungen zutage treten.

Wenn Therapie ins Leere läuft

Bei nicht diagnostizierten Frauen sieht das Umfeld zwar diese offensichtlichen seelischen Erkrankungen, ohne die Frage nach dem Warum beantworten zu können. Auch im medizinisch-therapeutischen Hilfesystem wird vielfach verkannt, dass hinter den Symptomen eine Autismus-Spektrum-Störung steht, sodass manche therapeutische Intervention  ins Leere läuft oder sogar kontraproduktiv ist. Dies gilt besonders für Methoden, die auf eine Normalisierung des Verhaltens hinauslaufen, wie das Abtrainieren von Routinen und Ritualen oder die Gewöhnung an Angst und Überforderung auslösende Situationen durch wiederholte Konfrontation. Manche als krankhaft angesehene Verhaltensweisen können für Autistinnen eine wichtige stabilisierende Funktion haben, die ihnen nicht entzogen werden darf. Sie werden als „Ich-synton“ bezeichnet, das heißt sie stehen im Einklang mit der Person und lösen ein Wohlbefinden aus. Selbstverständlich ist es notwendig, eine akute psychosomatische Krankheit zu behandeln, wenn sie die Lebensqualität beeinträchtigt oder sogar gefährlich wird. Beispiele sind eine zeitweise Medikation gegen Depressionen und Ängste, bei Essstörungen die Beobachtung des Essverhaltens und Körpergewichts, die Vermeidung von Suiziden. Veränderungen an einem problematischen Verhalten sollten vorsichtig angegangen werden, indem sie das gerade bei autistischen Menschen große Bedürfnis nach Selbstbestimmung respektieren. Auch brauchen sie für eine Gesundung mehr Ruhe und mehr Zeit. 

Bedeutung der Diagnose

Eine Diagnose des zugrundeliegenden Autismus ist jedoch der entscheidende Schritt dazu, eine komorbide seelische Krise zu überwinden. Im Mittelpunkt der Therapie sollte dann stehen, erlebte Verletzungen zu verarbeiten, ein positives Selbstbild herauszuarbeiten, Freundschaft mit sich und dem eigenen Körper zu schließen. Es gilt, die persönlichen Ressourcen zu entdecken und die junge Frau in ihrem „So-Sein“ zu stärken. Nur indem die junge Frau und ihr Umfeld erkennt und würdigt, wer sie ist und worin ihre Besonderheiten liegen, kann sie sich öffnen für die Erfahrungen und Herausforderungen des Erwachsenwerdens – nach ihren Werten, in ihrem Tempo, mit ihren Zielen!

 

Sabine Kraus

geboren 1977 hat im Alter von 36 Jahren eine Diagnose aus dem autistischen Spektrum erhalten. Sie hat Anglistik und Germanistik (Literaturwissenschaften) studiert und war als Lehrkraft für Englisch in der Erwachsenenbildung tätig. Heute ist sie in einem Autismus-Therapiezentrum beschäftigt, wo sie neben der Verwaltung Aufgaben in der Selbsthilfe, Öffentlichkeitsarbeit und Beratung wahrnimmt. In ihren Beiträgen möchte sie aus ihrer weiblichen Sicht verdeutlichen, dass sich bei vielen Frauen Autismus nicht wie aus dem Lehrbuch zeigt. Im Blog schreibt sie unter einem Pseudonym, weil die zum Teil persönlichen Inhalte unbeschränkt online eingesehen und geteilt werden können. Damit möchte sie ihre Privatsphäre schützen.

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