Ignoriertes Risiko-Suizidalität im Autismus-Spektrum

Regine Winkelmann

In diesem Beitrag geht es um Suizidalität. Bitte überlege kurz, ob du diesen Beitrag wirklich lesen möchtest und derzeit genug  Stabilität dafür hast. Wenn du unsicher bist, dann schließe diesen Bericht.

 

Bereits 2013 wurde bekannt und durch Studien nachgewiesen, dass die Suizidalitätsrate unter Autisten deutlich höher ist als in der Normalbevölkerung. Bis zu 7,5-mal häufiger begehen Personen Selbstmord, wenn sie im Autismus-Spektrum sind.
Nun, das war vor 10 Jahren. Sollte sich da die Situation für viele von uns nicht gebessert haben?
Leider nein.

7,5-mal häufiger. Was bedeutet das denn?
So eine Größe kann man erst dann fassen, wenn man weiß, wie hoch insgesamt die Selbstmordrate ist.
2019 veröffentlichte das Ärzteblatt eine Untersuchung der WHO:

“Jährlich nehmen sich nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) rund 800.000 Menschen auf der Welt das Leben. Alle 40 Sekunden sterbe ein Mensch auf diese Weise. Damit gehöre Suizid zu den häufigsten Todesarten, teilte die WHO heute vor dem morgigen Welttag der Suizidprävention mit.”

Wird einem das Ausmaß so vor Augen geführt, ist die Aussage, dass Menschen im Autismus-Spektrum zu 7,5-mal häufiger Suizid begehen, gleich anders zu beurteilen.
Selbst nach vielen Jahren der besseren Bekanntmachung, der Öffentlichkeitsarbeit vieler Betroffener und Bemühungen um Inklusion ist für die heranwachsenden autistischen Kinder die Hürde, einen gleichwertigen Platz innerhalb der Gesellschaft zu erhalten, eine viel höhere.
Das ist ein bekanntes Problem und letztlich ein ignoriertes. Denn es passiert nicht wirklich etwas.

Es wird darüber geredet – und spekuliert – was Lösungen sein könnten.
Welche Veränderungen oder Verbesserungen die richtigen wären.
Seitens der Politik, seitens der Behörden, Mediziner, Therapeuten usw.
Wir allerdings sind diejenigen, um die es dabei geht.
Wir sind es, die meist mit diesen Lösungen dann klarkommen müssen.

Enttäuschenderweise sind wir nach wie vor diejenigen, die seltenst hierzu gefragt werden,
obwohl viele Autisten kognitiv durchaus dazu in der Lage wären mitzusprechen und wir auch durchaus bereit dazu wären. Wir bieten uns an und wünschen, dass man uns fragt.
Und dennoch wird über uns hinweg entschieden – oder auch völlig an uns vorbei.

Nach wie vor behaupten Menschen, die nicht so denken und empfinden wie wir, sie wüssten, wie wir denken und empfinden.
Und schlimmer noch, sie glauben auch zu wissen, was für uns das Beste ist.

Doch obwohl sie vorgeben zu wissen, was wir brauchen und was uns hilft, sind die Chancen für uns viel geringer.
Damit verbunden geringer auch die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben – ohne abhängig zu sein von Hilfen – sei es familiäre oder behördlich installierte.

Die meisten Autisten wissen leider aus eigener Erfahrung, warum das so ist.
Wir wissen, warum wir scheitern und auch was uns scheitern lässt.
Wir kennen den Kampf und wissen, dass einige von uns regelmäßig dabei auf der Strecke bleiben und manche aufgeben müssen.
Schlimm genug.

In der Erwachsenenpsychiatrie wird der Autismus weitgehend ignoriert und ausgeblendet.

Eine große Gruppe der Menschen, die am Leben scheitern, die verzweifelt sind und sich schon immer fragten, warum sie so anders und falsch in dieser Gesellschaft sind, wissen überhaupt nicht, dass sie möglicherweise im Spektrum sind.
Selbst wenn die Betroffenen es ahnen, sich an einen Arzt ihres Vertrauens wenden, wird den meisten diese „Idee“ sofort ausgeredet.
Warum?
Autismus wird in der Medizin als ein winziger Randbereich gelehrt und es gibt nur sehr wenige Mediziner, die sich damit auskennen und Autismus auch erkennen. Ob das lediglich ein Informationsproblem ist, oder doch methodisch und so gewollt, darf man spekulieren.
Das Ergebnis in den Praxen ist für eine Person, die nach Antworten sucht, überwiegend gleich niederschmetternd.

„Sie können sprechen, sie können sich mitteilen, sie sind nicht kognitiv eingeschränkt, sondern haben sogar ein abgeschlossenes Studium. Wären Sie Autist, könnten sie das alles nicht.“

Fast jeder von uns hat solche oder ähnliche Aussagen schon gehört. Ist mit seiner Not, und seiner Suche nach Hilfe und Erklärungen abgeschmettert und belächelt worden.

Die Cambridge Universität veröffentlichte nun im vergangenen Jahr (2022) eine weitere Untersuchung.

Die Studie ergab, dass 10 % der Suizidtoten Anzeichen für erhöhte autistische Merkmale aufweisen, was darauf hinweist, dass viele Menschen, die durch Suizid starben, möglicherweise autistisch waren, aber nie als solche erkannt und auch nicht diagnostiziert wurden.

Dieselbe Forschungsgruppe hatte vor Jahren bereits Daten innerhalb der Familien erhoben, in der es einen vollzogenen Suizid gab.
Das Ergebnis war, dass 35 % der Menschen davon eine anerkannte Autismus-Diagnose hatten.
Nun, es liegt nahe, zu überlegen, wie hoch die Dunkelziffer der vielen undiagnostizierten Fälle ist und wie schwer ihr Leid und ihre Ausweglosigkeit wiegt.

Die neue Studie von 2022 ergab jetzt, dass bei 41 % der untersuchten Fälle, deutliche Hinweise vorlagen, dass die Person im Autismus-Spektrum lag.

Wirklich erstaunt sind wir darüber zwar nicht. Aber wir müssen unbedingt darüber sprechen.

“Die Suizidraten bei autistischen Menschen sind unannehmbar hoch, und die Suizidprävention muss das oberste Ziel sein, um die besorgniserregende erhöhte Sterblichkeit bei autistischen Menschen zu verringern”

Simon Baron Cohen

 

https://www.cam.ac.uk/research/news/study-reveals-high-rate-of-possible-undiagnosed-autism-in-people-who-died-by-suicide

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/105842/WHO-Alle-40-Sekunden-stirbt-ein-Mensch-durch-Suizid

Regine Winkelmann

Nach abgeschlossenem Designstudium 1990 brachte sie vier Kinder zur Welt und widmete sich in dieser Zeit ihren Spezialinteressen, der Kunst, Musik und Medizin. Seit der ersten Buchveröffentlichung 2015 widmet sie sich verstärkt der Öffentlichkeitsarbeit. Als Referentin und Autorin hält sie Vorträge und Lesungen über Autismus und artverwandte Neurodivergenz aus ihrer eigenen Perspektive als Autistin mit ADHS. Neben verschiedenen Publikationen verfasst sie Videomaterial und organisiert regelmäßig Kongresse, mit dem Ziel, Betroffenen dort eine Stimme zu geben.

4 Antworten

  1. Sehr geehrte Frau Fischer,
    Ich finde Ihren Artikel sehr aufschlussreich und realistisch betrachtet. Ich selbst arbeite in der Erwachsenen Psychiatrie und bin Mutter eines atypischen Sohnes mit ADHS. Mein Sohn hatte bereits im Alter von sechs Jahren suizidale Gedanken. Mittlerweile, ist er fast siebzehn Jahre alt, engmaschig therapeutisch begleitet und medikamentös eingestellt. Trotz der Einnahme von Antidepressiva u.a.bricht der suizidale Gedanke immer wieder durch. Und ich finde, Sie haben die Problematik genau auf den Punkt gebracht.

  2. Ja, aber es ist auch bewiesen dass bei homosexuellen, Raucher/innen, Wähler von solchen Parteien wie AFD, SVP und Atheisten die Suizidrate höher ist.

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