Inklusion wird unnötig, wenn sie funktioniert.

Regine Winkelmann

Wenn Inklusion funktioniert, dürfen wir sie abschaffen. 

Das klingt vielleicht paradox, ist es aber nicht und auch keinesfalls ironisch gemeint. Es ist sogar das Ziel oder der Traum vieler Menschen, die sich in der Minderheit befinden und um Teilhabe kämpfen.
Wir befinden uns mitten in der Coronapandemie und für viele Menschen wird jetzt erst einmal deutlich, was fehlende Teilhabe bedeutet. Von Teilhabe ausgeschlossen oder daran gehindert sind in dieser Gesellschaft normalerweise Menschen, die es aus verschiedenen Gründen nicht schaffen, in derselben Art und Weise am Gesellschaftsleben teilzunehmen. Sei es aus Gründen von Armut, Krankheit oder Behinderungen jeglicher Form. Für viele dieser Menschen ist die jetzige Beschränkung etwas nahezu alltägliches. Beschränkungen der Spontanität und Aktivität durch die Coronamaßnahmen, können sie kaum erschüttern. Natürlich sind sie nicht schön, aber eben notwendig und auch wenn sie dauern – vorübergehend.

Für Menschen ohne Einschränkungen, die noch nie um Teilhabe kämpfen mussten, ist die jetzige Ausnahmesituation eine erschreckende Bedrohung und eine Einschränkung in ihren gut funktionierenden Alltag. Die ungewohnten Ausgangsbeschränkungen und Kontaktvermeidungen machen viele nun emotional sehr instabil. Hinzu kommen Ängste, sozial und auch finanziell zu verarmen. Sie erleben physisch und psychisch eine für sie nie dagewesene Bedrohung und Unsicherheit.
Das ist absolut verständlich und es ist ebenso berechtigt.
Diese Empfindungen gehören zu der Welt einiger weniger Menschen dieser Gesellschaft. Es ist ihnen ein Dauerbegleiter, mit dem sie abends schlafen gehen und morgens wieder aufwachen.

Willkommen in der Welt, der Randgruppen und Minderheiten.

„Doch seid voller Hoffnung, diese Welt, wie ihr sie jetzt erlebt, ist für euch nicht von Dauer.“
Ein weiterer Gedanke, der für einige sehr tröstlich ist, alle Menschen sind gleichermaßen betroffen. Damit fühlen sich die Menschen in der Krise nicht alleine. Sie betrifft jeden in irgendeiner Form, ohne Rücksicht auf Herkunft oder gesellschaftlicher Position.
Covid-19 macht die Menschen gleich – nun ja, fast.
Jedenfalls ist die Gefahr, die das mit sich bringt, gesundheitlich, wirtschaftlich und sozial, der Mehrheit präsent. Und es vergeht seit Anfang März wohl kaum einen Tag, an dem nicht jeder Einzelne bemerkt, was es bedeutet gehindert zu werden – behindert zu sein.
Das Wort Inklusion wird hier überhaupt nicht verwendet, denn es handelt sich nicht um wenige, um die man bemüht ist, sondern um die gesamte Menschheit. Da bedarf es dieser Worte  gar nicht. Jeder ist betroffen und aufgrund dessen auch mit all „Seinesgleichen“ so empathisch und solidarisch.
Nun sitzen wir plötzlich alle in demselben Boot und haben mehr oder weniger die gleiche „Behinderung“.
Und nun geht doch noch was. Es geht tatsächlich so viel mehr. Wir kämpfen da wo es möglich, ist Seite an Seite, um jedes bisschen Gewohnheit, Struktur und Normalität.

 

Und siehe da, es funktioniert.

Es funktioniert vielleicht nicht optimal in jedem Bereich, doch die Bemühungen aller, Lösungen für jeden in dieser Gesellschaft zu finden, ist erkennbar.
Hotels machen den Obdachlosen die Türen auf und lassen sie während der Ausgangsbeschränkungen frei logieren. Die Rede ist von wohnungslose Mitbürger, um die sich bis vor wenigen Wochen kaum jemand scherte. Doch nun werden auch sie gesehen und erfahren Fürsorge. Die Sorge gilt auch den Alten und Gebrechlichen, den Behinderten, den Risikogruppen.  Es wird öffentlich appelliert auch für sie Einkäufe und Botengänge mitzuübernehmen. Es werden spontane Konzerte vor Altersheimen gehalten, Videochats überall sorgen dafür, dass die, denen Teilhabebeschränkungen schon seit vielen Jahren oder sogar ein Leben lang nicht unbekannt sind, sozial nicht abgehängt werden.
Heute am 16. März schließen hier in NRW die Schulen. Es wird alles bereitgestellt was in der Kürze derzeit vorhanden und möglich ist, mit dem größtmöglichen Verständnis für die erschwerte und ungewohnte Situation jedes einzelnen Schülers. Wie oft haben Eltern erfolglos um individuelle Hilfen und Alternativen gebeten, wenn ihre Kinder nicht in der üblichen Form am Unterricht teilnehmen konnten? Wie oft haben wir vergeblich versucht für unsere Kinder die passenden Rahmenbedingungen zu erhalten? Begründungen lauteten etwa: „Es gibt Schulpflicht und für keinen Schüler Extrawürste – da könnte ja jeder kommen.“ Und nun geht so vieles. Eine nie dagewesene, niederschwellige Bürokratie macht in kürzester Zeit aus so einigen unnahbaren Amtsmenschen, hilfsbereite Sachbearbeiter, die problemlösungsorientiert telefonisch oder online Anträge bereitwillig ausfüllten, um riskante Behördengänge für die Bürger vermeidbar zu machen.
Inklusion, bzw. Barrierefreiheit und individuelle Problembehebung, wurde über Nacht fast selbstverständlich. Durch kleine und schnelle Gesetzesänderungen und vor Allem, durch kreative Lösungen.
Das ist wirklich toll und zeigt den Einfallsreichtum, die Bereitschaft und die Möglichkeiten einer Gesellschaft, jeden mitzunehmen. Es zeigt aber auch, dass die sehr hoch gehängten und für viele unerreichbaren Hilfen, bewusst erschwert wurden. Die Hürden sollten hoch sein, es sollte uns gar nicht so leicht gemacht werden. 

 

Das Inklusionsgesetz

Es besteht nun schon gut 10 Jahre und hat außer Lippenbekenntnissen hier und da, nur wenig Barrieren genommen. Es hat vor allem die Barrieren nicht überwunden, die in den Köpfen der Menschen bestehen.
Was braucht es, um in einige Köpfe vorzudringen? Braucht es noch intensivere Aufklärungsarbeit und noch breitere Öffentlichkeitsarbeit? Ich denke nicht.
Die Gesellschaft und vor allem die Entscheidungsträger benötigen einmal in ihrem Leben die persönliche Erfahrung, dass Teilhabe nicht selbstverständlich ist. Sondern an funktionierende Bedingungen geknüpft. Und diese sind, wie das eigene Leben und die eigene Unversehrtheit fragil.
Nun brauchte es für rasche, unbürokratische Änderungen einmal die hautnahe eigene Betroffenheit jedes Einzelnen, und das einheitliche Gefühl aller Menschen, aller Gesellschaftsschichten, plötzlich und unfreiwillig von Teilhabe bedroht oder ausgeschlossen zu sein – wenn auch nur vorübergehend.
Und durch die allgemeine Not geht nun so vieles mehr.
Wird auch das vorübergehend sein, wenn die Mehrheitsgesellschaft wieder in den Normalzustand zurückgefunden hat?

Regine Winkelmann

Nach abgeschlossenem Designstudium 1990 brachte sie vier Kinder zur Welt und widmete sich in dieser Zeit ihren Spezialinteressen, der Kunst, Musik und Medizin. Seit der ersten Buchveröffentlichung 2015 widmet sie sich verstärkt der Öffentlichkeitsarbeit. Als Referentin und Autorin hält sie Vorträge und Lesungen über Autismus und artverwandte Neurodivergenz aus ihrer eigenen Perspektive als Autistin mit ADHS. Neben verschiedenen Publikationen verfasst sie Videomaterial und organisiert regelmäßig Kongresse, mit dem Ziel, Betroffenen dort eine Stimme zu geben.

Eine Antwort

  1. Ein guter Gedanke, dass der Shutdown aufgrund von Corona für alle das erfahrbar gemacht hat, was Menschen mit Behinderung und aus anderen Randgruppen tagtäglich durchmachen! Toll formuliert: Kann dieser Artikel weitere Verbreitung finden?

    Wo es als Ausnahmezustand die ganze Gesellschaft trifft, reagiert die Politik, es werden schnell und unbürokratisch wirtschaftliche Hilfen gewährt, in den Medien steht das Thema über Wochen ganz oben. Ganz wie Regine Winkelmann schreibt, fällt die Solidarität untereinander, das Bemühen in der schwierigen Situation zueinander zu stehen und gemeinsam das Beste daraus zu machen, deutlich leichter als wenn nur eine Minderheit betroffen ist. Zumal diese Minderheit der sozial Benachteiligten aufgespalten ist in unzählige kleinere Gruppen (z.B. verschiedene Formen der Behinderung, Herkunftsländer, Einkommenssituationen etc.), die untereinander wenig vernetzt sind. „Was geht mich das an?“ mögen da einige denken, gefangen in ihren eigenen Bezügen. Bei Randgruppen laufen die Parteien kaum Gefahr, viele Wählerstimmen zu verlieren, wohl aber dass Menschen sich aufgeben, sich von der Gesellschaft abwenden bzw. abdriften in demokratiefeindliche Strömungen. Auch die wirtschaftliche Kraft der Randgruppen einschließlich der Menschen mit Behinderung ist gering, der Sozialstaat federt zwar ihre größte Not ab, ohne jedoch auf die Ursachen einzugehen und würdige Auswege zu eröffnen.

    Zu Beginn war ich zuversichtlich, dass unsere Gesellschaft als Ganzes etwas lernt aus der Coronakrise. Mittlerweile, im Zuge der Lockerungen, legt sich mein Optimismus wieder. Ich denke, es ist politisch gewollt, dass sich der sogenannte „Normalzustand“ möglichst schnell und bruchlos wieder einstellt, zum einen um das Rad der wachstumsgetriebenen Weltwirtschaft am Laufen zu halten, zum anderen damit die Menschen nicht fundamental ins Denken kommen, was anders werden könnte. Mich hat Corona gelehrt, mit wie viel weniger ich auskommen kann und dabei ein zufriedenes Leben habe. Sind die Grundbedürfnisse gestillt, was in Deutschland zum Glück der Fall war, ist manches verzichtbar: Reisen, Unterhaltung und Zerstreuung, Konsum, das rastlose Gehetze von einem Termin zum nächsten.

    Ein letzter, praktischer Gedanke: In der Coronakrise haben sich digitale Beteiligungsmöglichkeiten weit verbreitet. Es ist möglich, sich online zu treffen, zum privaten, politischen oder beruflichen Austausch. Konzerte, Theateraufführungen, virtuelle Museumsrundgänge, Webinare, Parteitage etc. ermöglichen eine Teilhabe an Kultur und Bildung von zu Hause aus. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass jede/r die passenden Geräte und Zugang zum Internet hat und ggf. bei der Bedienung unterstützt wird. Ich wünsche mir, dass diese Möglichkeiten erhalten bleiben bzw. ausgebaut werden, damit alle am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Davon würden viele Menschen profitieren: Menschen mit Behinderung und körperlichen oder seelischen Erkrankungen, ältere Menschen, Eltern von kleinen Kindern, Menschen in ländlichen Regionen uva.
    Auch für Menschen mit Autismus baut die digitale Teilhabe Barrieren ab, so ist es möglich, im gewohnten, reizreduzierten Umfeld zu bleiben. Die soziale Situation ist aus der Distanz leichter zu handhaben, sind doch die Gelegenheiten zum Smalltalk reduziert, Dinge wie Händeschütteln, Gestik und körperliche Nähe fallen weg. Ebenso die Belastung von Anfahrtswegen, ggf. mit Übernachtung und ungewohntem Tagesablauf und Essen. Ich würde als große Erleichterung erleben, die Wahl zu haben zwischen Präsenz- und virtueller Teilnahme an Veranstaltungen.

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